Siegfried
Trapp
Willkommen
Bienvenido
Welcome
massivem Rückenwind dessen, was Max Weber als „protestantische Ethik"
beschrieb. Der Protestant muß kalkulatorisch und sparsam mit Zeit umgehen,
denn das ewige Leben, die Zeitlosigkeit, ist über Arbeit und Verzicht zu
erlangen, während die Katholiken eine Erlösung durch die Befolgung der
Sakramente, einer völlig anderen Art von Arbeit, die nicht auf materiellen
Wohlstand zielt, zu erreichen versuchten.
Die Ablösung der Lebensgestaltung von den Zeitangaben der Natur und die
Ausrichtung an protestantischen Wertvorstellungen führten in der Folgezeit zu
den bekannten Effekten der Industrialisierung, mit ihren revolutionären
Veränderungen der Produktionsformen, der Verkehrs- und der
Kommunikationsmittel. Der heilige Geist wurde zum eiligen Geist, die
lebensorientierte Arbeitszeit zur arbeitsorientierten Lebenszeit. Ich habe
nirgends eine treffendere Schilderung einer solchen arbeitsorientierten Lebens-
und Zeitauffassung gefunden als bei Paul Scheerbart. 1902 publizierte dieser
folgende Geschichte: Bei den fleißigen Ameisen herrscht eine sonderbare Sitte:
Die Ameise, die in acht Tagen am meisten gearbeitet hat, wird am neunten Tag
feierlich gebraten und von den Ameisen ihres Stammes gemeinschaftlich
verspeist. Die Ameisen glauben, daß durch dieses Gericht der Arbeitsgeist der
fleißigsten auf die essenden übergehe.
Und es ist für eine Ameise eine ganz außerordentliche Ehre, feierlich am
neunten Tag gebraten und verspeist zu werden. Aber trotzdem ist es einmal
vorgekommen, daß eine der fleißigsten Ameisen kurz vorm Gebratenwerden
noch folgende kleine Rede hielt: „Meine lieben Brüder und Schwestern! Es ist
mir ja ungemein angenehm, daß Ihr mich so ehren wollt! Ich muß Euch aber
gestehen, daß es mir noch angenehmer sein würde, wenn ich nicht die
Fleißigste gewesen wäre. Man lebt doch nicht bloß, um sich totzuschuften!"
„Wozu denn?", schrien die Ameisen ihres Stammes - und sie schmissen die
große Rednerin schnell in die Bratpfanne - sonst hätte dieses dumme Tier
noch mehr geredet.
Die zweite Phase der Entwicklung, die wir die Moderne nennen, ist dort
zeitlich lokalisiert, wo menschliche und tierische Arbeitskraft durch Maschinen
ergänzt und ersetzt wurden. An die Stelle der rhythmisch gestalteten
Produktivität der Natur trat die Produktivität der industriell organisierten Arbeit.
Die technisch-industrielle Produktion löste das Zeiterleben von der Natur. Zeit
wurde nicht mehr an konkreten Erlebnisinhalten beziehungsweiswe an
anschaulichen Erfahrungen festgemacht, sondern weitgehend als von
Ereignissen losgelöst verstanden. Auf den Erziehungs-bereich bezogen: Die
Schule beginnt jetzt situationsunabhängig um acht Uhr und nicht zum Beispiel
wenn es hell wird oder wenn alle Schüler da sind, wie dies noch in ähnlicher
Form vom Kirchgang in Südtirol aus dem letzten Jahrhundert berichtet wird, wo
das sonntägliche Glockenläuten zum Gottesdienst erst dann einsetzte, wenn
der am weitesten entfernt wohnende Bauer auf dem Hügel von der Kirche aus
gesehen werden konnte. Technik und Ökonomie setzten den Takt - die
Wiederkehr des Gleichen - an die Stelle der rhythmischen Gliederung des
Werdens und Ver-gehens. Die Zeit und die Zeiteinteilung wurden an das
abstrakte Medium Geld gekoppelt, sie wurden käpitalisiert. Die
Verrechenbarkeit von Geld und Zeit (Time is Money) macht die Zeit zur
knappen Ware und fördert damit die Beschleunigung der Arbeitsund
Lebensverhältnisse.
Das Zeitmuster des Taktes wird zum beherrschenden zeitlichen
Organisations-prinzip. Chaplin hat für dieses Leben auf die Minute in
„Modern Times" die treffenden Bilder gefunden. Die Maschine liefert das
Zeitmaß, an diesem gilt es sich primär auszurichten und nicht mehr an den
Rhythmen des Lebendigen. Der Fortschritt, als eine auf Zukunft gerichtete
Heilserwartung, bestimmt die temporale Lebensform. Die unendliche
Ausdehnung in die Zukunft hinein macht Zeit grenzenlos teilbar und
zerstückelbar.
Die Zeit hat jetzt, im Gegensatz zur Vormoderne, eine völlig veränderte
Wertigkeit. Zeit, die nicht in Geld verwandelt werden kann, scheint wertlos.
Sie fällt in den Schattenbereich der industrialisierten Welt. Die Uhr wird zur
überall sichtbaren Aufforderung, ständig zeitbewußt und zeitsparend zu
leben. Die Zeitüberwachung und die Zeitdisziplinierung, die bis in die Mitte
des 19. Jahr-hunderts speziell den Meistern und den Unternehmern oblag,
wird in der Folgezeit zunehmend entpersönlicht und standardisiert. 1893
wird die Standard-zeit in Deutschland eingeführt. Bereits 20 Jahre vorher
beklagt der Sachsen-hauser Bezirksvorstand in Frankfurt das Fehlen
öffentlicher Uhren als einen „in jeder Beziehung (!) sehr empfindlichen und
nachteiligen Übelstand: Die Kinder z.B., welche zur Schule gehen, werden
oft in die Lage kommen, die Anfangszeit der Schule durch Mangel
jeglicher öffentlicher Uhr nicht mehr pünktlich einhalten zu können, das
richtige Aufgeben der Briefe zur Post, die Eisenbahn-züge, sowie
rechtzeitiges Erscheinen bei den Gerichten, Ämtern usw. werden versäumt
werden, kurz, es werden die mannigfachsten Unzuträglichkeiten durch den
Mangel einer richtig gehenden Uhr entstehen."
Pünktlichkeit wird zur geachteten und prämierten Tugend. Um den
Erziehungs-prozeß dahingehend zu unterstützen, schließen sich 1872
Frankfurter Geschäfts-leute zusammen, um öffentlich Uhren aufzustellen, die
nachts erleuchtet sind. 1922 wird an gleichem Ort vom Magistrat die 24-
Stundenzählung (bis dahin zählte man zwei mal 12 Stunden) vorgeschlagen.
1927 wird diese Standardisierung durch Reichserlaß verordnet. Gustav
Schmoller beschreibt die damalige Zeitkultur (1873):
„Schnell muß alles vorwärts gehen. Die Tugend der Präcision ist vielleicht am
allermeisten gestiegen. Die Eisenbahnen wirken, hat man schon gesagt, wie
große Nationaluhren. Freilich wer mitkommen will im Leben, muß alle
individuellen Wünsche zurücklassen, dem raschen Tempo, den allgemeinen
Bedingungen des Dauerlaufs sich fügen."
Die Abkoppelung der Zeitorientierung von den kosmischen und den natürlichen
Vorgaben führt dann schließlich dazu, daß Regeln (zum Beispiel in
Tarifverträgen, in Betriebsordnungen, durch Arbeits- und Verwaltungsgerichte
und so weiter) entwickelt werden (müssen), die die Menschen vor den
negativen Effekten einer naturfernen Zeitordnung schützen. Kaffeepausen,
Urlaub, Freizeit, Fünftage-woche, all dies sind Errungenschaften einer
Gesellschaft, die die Zeit und ihre Strukturierung selbst in die Hand
genommen hat. Letztlich haben wir unseren Güterwohlstand diesem
Perspektivenwechsel zu verdanken - aber auch unseren Zeitnotstand. Die
Ablösung der Naturrhythmen durch den menschen-gemachten
mechanischen Takt hat uns zu neuen Horizonten der Freiheit geführt -
jedoch um den Preis wachsender funktionaler Abhängigkeiten. Wir sind
heute weitgehend unabhängig von den Folgen von Naturgewalten, dafür
abhängiger vom Ölpreis. Unsere Erlösungshoffnungen richten sich nicht
mehr auf die Ewigkeit, sondern auf die rechtzeitige Auszahlung unserer
Lebens-versicherung.
III. Eines Tages, es ist noch nicht allzu lange her, entdeckte man, daß
Flexibilisierung der richtige Name für das sei, woran es uns fehlt. Dies war
der Anfang vom Ende taktmäßiger Zeitordnung.
Das Zeitalter fremdbestimmter und fremdgesteuerter
Pünktlichkeitsmoral geht heute seinem Ende entgegen. Die
Zeitorganisation wird zum individuellen Problem und damit zur Aufgabe der
Selbstdisziplinierung. Untrügliches Zeichen dafür ist das offensichtliche
Verschwinden öffentlicher Uhren. Geht man in Frankfurt vom
Hauptbahnhof zu Fuß ins Bankenviertel, durchquert man einen uhrlosen,
aber keinen zeitlosen Raum. Weder an den Litfaßsäulen, noch an den U-
Bahneingängen und auch nicht mehr an den vielen Geschäftshäusern
findet man Orientierung in der Vergänglichkeit des Tages. Man muß selbst
eine Uhr besitzen. Dies wird als selbstverständliche Normalität
vorausgesetzt. So kommt es zu dem bedauerlichen Sachverhalt, daß wir
alle zwar einen Zeitmesser haben, aber dafür keine Zeit mehr.
Wir sind, dies kann man bereits bei dem weitsichtigen Novalis
nachlesen, „aus der Zeit der allgemein geltenden Formen heraus". In
dieser gegenwärtigen historischen Phase, die man meines Erachtens mit
guten Gründen Post-moderne nennen kann, befreien wir uns von der
zeitlichen Orientierung am mechanischen Weltbild des Uhrwerks und des
regelmäßigen Taktes. Dafür werden Leitbilder des Nicht-Linearen, des
Chaos, der Diskontinuität, der Zeitvielfalt für uns sinnbestimmend. Konkret
heißt das, daß die Bindung an äußere Zeitgeber generell verringert wird,
und zwar zugunsten individueller zeitlicher Orientierungsmaße. Diesem
Sachverhalt haben die Wecker, von denen es mehr als Einwohner in
unserer Republik gibt, ihren Siegeszug in die Schlafzimmer der Nation zu
verdanken. Die Flexibilisierung der Arbeits- und der Lebensverhältnisse
hat sie unverzichtbar gemacht. Wir erleben es heute mehr-heitlich als
Freiheitsgewinn, jeden Abend neu entscheiden zu können, wann man am
nächsten Morgen das Bett verläßt. Dafür zahlen wir einen Preis. Die
Entroutinisierung sozialer Zeitorientierung belastet uns mit zusätzlichem Ent-
scheidungsstreß. Wer heute guten Gewissens aus dem Bett steigt oder
dieses aufsucht, braucht ein Motiv. Das schlichte Naturereignis, daß die
Sonne unter- oder aufgeht, reicht nicht mehr aus - nicht einmal mehr, um
unsere Kinder von dem Spiel mit dem schnellsten Haustier, der
Computermaus, loszureißen.
Dies alles wird als Fortschritt gefeiert, zumindest als-solcher akzeptiert. Es
ist zweifelsohne auch einer, da wir durch ihn unter anderem von Hunger,
Dunkelheit und erzwungener Seßhaftigkeit befreit wurden, und weil er uns
viele Möglich-keiten des Handelns eröffnete, die früheren Generationen
verschlossen blieben. Aber diese Entwicklung zieht eine Schleppe von
allerlei Mißliebigkeiten mit, die wir Nebenfolgen zu benennen gelernt
haben. Wir sind Nomaden zwischen unterschiedlichen Zeitanforderungen
und verschiedenen Zeitmustern, die es gilt, mit relativ viel Zeitaufwand
täglich, ja stündlich, zu koordinieren und zu balancieren. Das Problem, an
dem wir alle in dieser verschärften Moderne laborieren, ist der Sachverhalt,
daß die erwünschte zeitliche Flexibilität durch eine prinzipielle Vorgabe, also
eine Meta-Ordnung, abgesichert werden muß. Das heißt, Flexibilität
braucht ein orientierendes Maß, das stabil bleibt, also nicht flexibel ist. Die
Natur, die Kirche, soziale und einflußreiche Menschen, haben dies in der
Vormoderne und in der Moderne bis in unser Jahrhundert hinein geleistet.
Ihre Orientierungsfunktionen finden heute kaum mehr Anerkennung.
Jacques Delors hat darauf aufmerksam gemacht, als er behauptete, nicht
alle Deutschen glaubten an Gott, aber alle an die Bundesbank.
Wir leben in einer beschleunigt bewirtschafteten Zeit, das heißt in einer
aufgeregten Zeit. Aber das Geld, mit dem wir unsere Entscheidungen über
Zeit gerne koppeln, lädt uns das Problem des Maßes in verstärkter Art und
Weise auf. Es kennt kein genug, es ist inhaltsleerer Tauschwert. Nur das,
was ich mit dem Geld mache, kaufe, unternehme (das ist der
Gebrauchswert) kann Kriterien für das genug abgeben. Wenn man aber
die Gleichung Zeit ist Geld aufstellt, dann gilt die Maßlosigkeit neben dem
Geld auch für die Zeit. So kommt es, daß, völlig losgelöst von inhaltlichen
Bestimmungen, in unserer Gesellschaft mehr Schnelligkeit, höhere
Beschleunigung, gesteigerte Zeitgewinne für fast alle Lebensbereiche
gefordert werden. Was mit der gewonnenen Zeit schließlich gemacht wird
oder gemacht werden soll, steht nicht zur Debatte. So führt der
Beschleunigungsdruck zu noch mehr Zeitsparanstrengungen. Denn die
gewonnene Zeit wird dazu genutzt, noch mehr Zeit zu gewinnen. Es gibt
bei dieser Spirale kein Ende, weil's kein genug gibt. Es sei denn das Ende
aller Zeit, der Tod, setzt ihr ein gewaltsames. Dann ist's wirklich genug. Ein
Wirtschafts-manager hat im „Spiegel" behauptet: In Zukunft wird es nur
noch zwei Arten von Unternehmen geben: Die schnellen und die toten. Er
hat dies als Mahnung verstanden, noch schneller zu werden. Vor lauter
Schnelligkeit ist er nicht dazu gekommen, Schiller zu lesen. Der nämlich
prophezeite: „Das langsamste Volk wird all' die schnellen, flüchtigen,
einholen." Schöne Aussichten!
Quelle: Capital 12/97
Meine Website