Gerl-Falkovitz: Ich kenne sie nicht. Aber man kann als Mensch so lange an einer Schuld arbeiten,
sie mit Argumenten oder auch mit Angst überdecken, bis sie schweigt, zumindest an der
Oberfläche.
SZ: Und in der Tiefe?
Gerl-Falkovitz: Das ist eine andere Geschichte. Die Tiefe kann vereisen oder auch aufbrechen.
SZ: Die Verletzlichkeit, haben Sie einmal gesagt, konstituiert uns als Mensch. Wir sind Leidwesen.
Angst und Schmerz sind keine Ausnahmezustände, sondern Normalität. Wenn das stimmt, dann
wäre das Vergeben-Lernen vielleicht die wichtigste Lebenskunst, oder?
Gerl-Falkovitz: Das unterschreibe ich sofort. Die Frage ist nur, ob wir das aus eigener Kraft
können.
SZ: Warum nicht?
Gerl-Falkovitz: Weil wir fleischgewordener Egoismus sind. Für uns hört Vergebung dort auf, wo
wir selbst existenziell getroffen sind. Denken Sie an die Eltern der toten Kinder. Dass sie Frau
Martin vergeben, ist eigentlich menschenunmöglich. Da bedarf es einer Kraft, die über die
irrsinnige Verletzung hinausgeht. Einer Kraft, von der alle religiösen Traditionen wissen, dass es
sie gibt.
SZ: Setzt Vergebung Reue voraus?
Gerl-Falkovitz: In unserem Alltagsverständnis ist das sicher so. Und es ist ja auch ein sinnvoller
Grundsatz, vor allem in der Erziehung. Aber in der Bibel ist es genau andersherum. Noch vor der
Reue steht die Schuld schon in einem Raum der Vergebung. Und diese Vergebung ist so groß,
dass der Schuldige zusammenbricht. Ich meine die Stelle bei Lukas 24, wo Petrus den Herrn
verleugnet hat. Da ist er im Gefängnishof, die Feuer brennen noch, und Jesus schaut Petrus an.
Ein unglaublicher Moment; der Blick ist von Rembrandt gemalt worden. Im Augen-Blick dieser
Vergebung bricht Petrus zusammen "und weinte bitterlich".
SZ: Weil er seine Schuld begreift.
Gerl-Falkovitz: Weil er nicht angeklagt wird. Es ist doch so: Solange uns jemand schuldig spricht,
verteidigen wir uns. Wir werden bedrängt und suchen nach Entschuldigungen. Wenn das aber
wegfällt, wenn uns der vergebende Blick trifft, dann kippt es. Dann packt uns die Reue. Und dann
geht es erst richtig los.
SZ: Was meinen Sie?
Gerl-Falkovitz: Der Prozess der Reue kann sehr, sehr schmerzhaft sein und Jahre dauern.
SZ, 29.08.2012, Was ist das Böse
Siegfried
Trapp
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