Derselbe Ort, Dienstag, 26.04.1983, 9:00
Am gestrigen Abend war ein interessantes Phänomen zu beobachten. Nördlich von hier
stehen Berge, die einzigen hier, vielleicht etwas über 200 m hoch über dem CP. Auf diese
zogen nun, in rascher Fahrt, Wolken hin, graue Regenwolken. Zwei erstaunliche Dinge
traten dabei in Erscheinung. Erstens: Die Wolken kamen aus verschiedenen Richtungen.
Ich stand etwas vor der Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks, die Wolken zogen in
Richtung der beiden Katheten, prallten also rechtwinklig auf einander, etwa in der Gegend
von Montpellier. Zweitens: Die grauen Regenwolken entstanden immer wieder aus dem
Nichts, das graue Dreieck hatte immer die gleiche Größe! An den Grenzstellen waren zuerst
immer nur dünne graue Fahnen zu sehen, die in rascher Fahrt weiter zogen und sich dabei
immer mehr verdichteten.
Die Beobachtung verschiedener Wolkenrichtungen beunruhigte mich, und ich sollte recht
behalten. Heute morgen hatte der Wind von SO auf SW gedreht: Ich somit statt
Halbrückenwind Gegenwind zu erwarten, da sich meine Richtung allmählich südwärts neigt.
Nachdem tagelang SO-Wind war, den ich jetzt gut gebrauchen könnte, dreht jetzt der Wind
ab. Inzwischen ist der Himmel mit grauen und weißen Regenwolken bedeckt, so weit das
Auge reicht.
CP bei Vias/Nähe Béziers, Mittwoch, 27.04.1983, 9:30, 75 kg
Der Gegenwind erwies sich als nicht so schlimm wie befürchtet. Auch das Wetter war ganz
passabel, über weite Strecken sogar Sonnenschein. Das tägliche Windproblem hatte
gestern ein anderes Gesicht: Starker Seitenwind mit Sandbeigaben vom Meeresstrand, das
bei starkem Autoverkehr. Das Rad kam öfters in ziemliches Schwanken, und ich ein
paarmal von der Straße ab.
Die ganz aus Basalt erbaute Kirche in Agde imponierte mir nicht besonders, und ich
verzichtete auf eine Besichtigung.
Einerseits wollte ich nach Narbonne-Plage. Andererseits waren das noch 40 km und es
bereits 16 Uhr. Eine heranziehende Regenfront gab den Ausschlag: Ich suchte den CP hier
auf.
Obwohl auf den ersten Blick nicht auszumachen caravanierten doch etliche Deutsche hier,
zum Teil schon seit Wochen bei schlechtem Wetter, wie ich erfuhr.
CP Rochegrise bei Narbonne, Donnerstag, 26.04.1983, 10:30
Bin gestern unterbrochen worden, deshalb jetzt die Fortsetzung.
Kein Wunder also, dass sie wahrscheinlich etwas von Langeweile geplagt waren, sich
deshalb ziemlich für mich interessierten. Innerhalb einer Stunde wusste ich über die
persönlichen Verhältnisse des halben CP Bescheid.
Ein Bochumer Ehepaar Mitte Fünfzig zeigte sich besonders interessiert. Der männliche Teil
schleppte einen Liegestuhl und eine alte Luftmatratze heran, die ich beide im niederen
Kuppelzelt verstauen musste (ging auf Biegen und Brechen hinein), auf dass ich "die Nacht
über etwas bequemer" schlafen würde. Dem war mitnichten so: Es war nun so eng, dass ich
die Beine leicht anwinkeln musste; ich konnte mich nicht umdrehen; der
Drahtgeflechtsliegestuhl quietschte.
Ich traute mich jedoch nicht, das fürsorgliche Angebot auszuschlagen.
Abends noch wurde ich auf einen Teller Erbsensuppe, morgens auf ein Frühstück in den
Wohnwagen gebeten. Dort erschloss sich mir auch die vermutliche Ursache der
besonderen Fürsorge: Sie hatten einen Sohn etwa in meinem Alter (32; war bis zum 20.
Lebensjahr mit den Eltern in Urlaub gefahren), der ebenfalls Chemie studiert hatte (der
Vater war in der Bergbauvermessung tätig gewesen, der Sohn hatte sich auf
Kohleverflüssigung spezialisiert), Ende Juni vergangenen Jahres promoviert hatte und und
somit genauso lange wie ich arbeitslos ist. Der steht jetzt davor, notgedrungen in Südafrika
zu arbeiten, und damit scheinen sich die Eltern schwer zu tun. Sie allein scheinen
vollkommen aneinander vorbei zu leben, manchmal redeten sie parallel nebeneinander zu
mir von ganz verschiedenen Dingen, wobei ich nicht wusste, wem ich mich zuwenden sollte,
ohne unhöflich zu sein, obschon sie die farbigere Gesprächsführung hatte, unter anderem
wurde mir das Garnieren einer Kartoffel köstlich anhand ihres eigenen Kopfes erklärt.
Ich radelte dann bei vor allem später gutem Wetter etwa 5 km parallel zur Küste durch das
Languedoc: Weite Weinfelder, sanfte, mit Zypressen und Pinien bestandene Hügel, mit
Dörfern an deren Südseiten. Eine der bislang schönsten Gegenden.
In Narbonne sah ich mir die Kathedrale Saint-Just an, ein von außen und innen
imponierendes Bauwerk, durch seine Mächtigkeit und Würde.
Die laut Reiseführer großartige Schatzkammer war leider verschlossen.
Es war dann schon später Nachmittag, aber ich hatte Rückenwind, und so
machte ich mich auf, auf der recht stark befahrenen N9 noch etwa 30 km
abzuspulen. Nach 3 km tauchte jedoch ein CP-Schild auf, die Ausläufer der Pyrenäen
machte sich allmählich durch Steigungen bemerkbar, und so betrat ich ihn. Combien coûte
pour une nuit? Es war relativ billig, die sanitären Anlagen jedoch die unsaubersten der
bisherigen Reise.
In den nächsten zwei bis drei Tagen muss ich Entscheidungen treffen: Wie geht es weiter?
Mit dem Zug nach Portugal? Mit dem Rad über die Pyrenäen: Mindestens 700 m
Höhenunterschied, mit der Gepäcklast? Mit dem Schiff nach Barcelona? Heimreisen?
CP bei Canet-Plage, Samstag, 30.04.1983, 11:00
Vor jeder Entscheidung muss ich zunächst erfahren, wie es sich mit meiner Bewerbung in
den Schuldienst verhält; heute nachmittag will Manfred Bescheid wissen.
Ich neige zu der Schiff-Alternative. Andererseits häufen sich allmählich die Momente, in
denen ich mich sehr müde fühle, mir die Plackerei auf dem Rad gegen den Wind, der fast
ständige Verzicht auf warmes und abwechsungsreiches Essen (bei meiner Finanzlage traue
ich mich nicht warm zu essen - das tat ich zuletzt in Arles, vor 8 oder 9 Tagen?), der Staub
und der Schmutz, die fehlenden Sprachkenntnisse (die alles erschweren) zu viel wird. Ich
bin jetzt sechseinhalb Wochen unterwegs.
Sehr wahrscheinlich würde ich jetzt die Reise beenden (sie hat mir doch einige persönliche
Erkenntnisse erbracht), würde mich in Deutschland etwas Erfeuliches oder wenigstens
Vernünftiges erwarten. Dem ist jedoch nicht so.
Ich bräuchte wenigstens eine persönliche, selbstständige Wohnstatt; als Basis für mich
selbst, zum Musikhören, zum Freunde einladen. Ich habe nichts dergleichen.
Wenig Perspektive sehe ich im Augenblick. Wieder im Verein Fussball spielen. Ab und an
Schach mit Charly. Botanik und Ornithologie vorantreiben. Näheren Kontakt zu Greenpeace
aufnehmen und versuchen, mich dort einzubringen.
Und auch die Freibadsaison wird bald eröffnet, die elend lange Winterdunkelheit muss ein
Ende finden.
Doch zurück zum Hier und Jetzt, bzw. zum letzten Abend im CP in Rochegrise. Dortselbst
hatte ich mir eine Überdosis Spaghetti zubereitet (leider geht mir bei großem Hunger die
simple Fähigkeit jedesmal (!!) ab, die Essmenge für eine Person abzuschätzen). Die
Überdosis bekam mir schon am Abend nicht, und am nächsten Morgen vermeinte ich
Wackersteine im Bauch zu haben. Das war der Kondition selbstredend sehr abträglich, und
ich tat mich insbesondere in den ersten beiden Stunden auf dem Rad sehr schwer.
Als ich am Vorabend die Fahrt (relativ früh) abbrach, flatterte die Fahne des CP genau in
meiner Reiserichtung. Als ich die Fahrt am nächsten Tag aufnahm, hatte der Wind um etwa
150° gedreht und wehte mit bewundernswerter Kraft und Ausdauer mir entgegen. Die
folgenden sechseinhalb Stunden waren die kräftezehrendsten der letzten Zeit. Schon nach
40 km war ich so entnervt, dass mir jeder CP recht gewesen wäre. Es waren aber alle
geschlossen, ich musste mich noch 20 km weiter nach Canet-Plage plagen.
Der CP ist bis auf Staub und Ameisen ganz gut, nur elend leer um diese Jahreszeit. Es ist
mir jetzt klar, dass meine Reise 4 bis 6 Wochen zu früh begonnen hatte; dies betrifft auch
die starken Winde. Ich hatte jedoch kaum eine andere Wahl.
Dann fuhr gestern morgen ein Mensch auf einem dröhnenden Grasmäher in den CP herein
und begann, die spärlichen, kümmerlichen, halbvertrockneten Grasbüschel mit seiner
traktorartigen Maschine zu traktieren. Ich saß gerade im Zelt, als verursacht durch diesen
Schwachsinn eine gewaltige Staubwolke unter der Zeltplane ins Innenzelt waberte. Bis ich
mich rausgerappelt hatte, war er schon weitergezogen. Eine nähere Inspektion erbrachte,
dass er auch meinen draußen hängenden Schlafsack voll eingestäubt hatte. Ich hätte
diesen Kretin am liebsten von seiner idiotischen Maschine heruntergezogen und geohrfeigt.
Je regrette je ne parle pas français! Der Schwachkopf hätte mich auch gar nicht gehört auf
seinem lärmenden Mistfahrzeug. So blieben mir nur wütende Gesten in seine Richtung.
Nicht mal beschweren kann man sich.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als den Schlafsack zu waschen. Dazu schleppte ich ihn
unter eine Dusche und seifte ihn ein, alles andere als einfach, da die Luft
kaum aus den Daunen heraus zu bekommen war. Das Auswaschen der
Seife dauerte noch länger, ewig lange schäumte es nach. Dann hängte
ich ihn zum Trocknen auf und radelte gen Perpignan.
Dieser Trip erwies sich als Flop.
Siegfried
Trapp
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