Ihr jungen Leute! Freut euch eurer Jugend nicht zu früh, denn vor euch
liegt ein langer Weg voller Tücken, bis ihr die Herrlichkeit des Lebens zuletzt
erreicht. Die ersten Jahrzehnte des Lebens sind ein einziger langer, zermür-
bender, erniedrigender Kampf, wenigstens für einen Augenblick mal den
Schalthebel in die Hand zu bekommen. Jeden Tag aufs Neue fallen die
eigenen Wünsche über einen her. Wenn man sich endlich beruhigt und mit
seinem Los abgefunden hat, ist man im mittleren Alter und dem Glück
schon ein gutes Stück näher, aber noch hat man ein paar anstrengende
Jahre des Sehnens und Bereuens vor sich. Und der Geschlechterkampf tritt
im mittleren Alter in seine wahrhaft heiße Phase. Männer und Frauen
mittleren Alters haben Angst voreinander. Die Frauen entdecken an ihren
Männern und die Männer an ihren Frauen den Verfall, den sie an sich selbst
nicht wahrhaben wollen. Die Folgen davon sind allgemeine Wut. In Läden
stoßen Männer die mittelalte Frau beiseite. Bei Partys wollen sie nicht neben
ihr sitzen. Sie tun so, als sei sie nicht da. Aber wie das Fegefeuer ist auch das
mittlere Alter von begrenzter Dauer. Marschiert nur weiter, eurem Ziel
entgegen! Dem magischen Alter ab Siebzig. Da wird das Leben selbst zur
Kostbarkeit.
Glaubt nicht dem Gejammer über schmerzende Knochen. Es stimmt zwar,
dass die Anzahl der Schmerzen pro Stunde und Quadratzentimeter der
eigenen Körperoberfläche mit zunehmendem Alter ebenfalls ständig zu-
nimmt, aber umgekehrt nimmt die Schmerzempfindlichkeit im gleichen
Maße ab. Man gewöhnt sich an den Schmerz, oder er wird einem im Großen
und Ganzen gleichgültig. Gewiss, würde man eine Zwanzigjährige in den
Körper einer Siebzigjährigen stecken, dann hörte sie mit Schreien gar nicht
mehr auf. Viele Alte spüren überhaupt keinen Schmerz mehr, aber sie tun
noch so - es ist eine Form von höflicher Konversation mit anderen Alten. Mit
Seufzern und Klagen bekräftigen sie ihre fröhliche Verbundenheit.
Nach Siebzig bricht der Kampf zwischen den Geschlechtern plötzlich ab.
Friedenszeit. Männer und Frauen werden einander immer ähnlicher, alle
verlieren nun ihre Haare, und selbst die Brüste des Mannes baumeln nun
schlaff herunter, während der Hintern der Frau so flach wird wie ein Pfann-
kuchen. Näher kommt man auf Erden dem Paradies nicht. Männer und
Frauen hören auf, voneinander das Unmögliche zu verlangen. Die Bezieh-
ungen werden liebenswürdiger. Die Karriere bietet keine Nebenwege mehr.
Es gibt nur noch die Freude am anderen. Und wenn es keinen anderen mehr
gibt, dann gibt es immer noch die heftigste Freude von allen, die Freude an
sich selbst - der Mund voll leckerem Essen, der wolkenlose Himmel.
Jahrzehnte müsst ihr warten, ihr Jungen, bis euch diese einfachen, profanen
Dinge mit wahrem Entzücken erfüllen.
Leicht verändert nach: Großmama packt aus: Roman von
Irene Dische und Reinhard Kaiser
Siegfried
Trapp
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