Siegfried Trapp
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14.11.40. Der "Führer" ist bereits eine mythische Gestalt im deutschen Volk, ein "böser Geist", gegen den niemand etwas zu äußern, ja nicht einmal im Geheimen zu denken wagt, weil man – abergläubisch, wie man ist – fürchtet, er könnte sich rächen, er sei ein Gott, ein böser Gott, der alles weiß und alles bestraft. Wie entsetzlich, was alles im Namen des deutschen Volkes geschieht. 14.12.40. Man kann gespannt sein, wie lange es noch dauern wird, bis sich das deutsche Volk seines selbstgemachten Gottes gründlich zu schämen beginnt! Bis die Scham so  angewachsen ist, dass jeder es für seine Ehre hält, sich öffentlich für sich selbst zu schämen darüber, dass er mitgeholfen hat, diesen Popanz zu einem Gott aufzuputzen! 12.12.41. Er ist ein Geisteskranker – nicht ein Haar anders als jener, der sich einbildet, der Schah von Persien zu sein. Nach nationalsozialistischer Methode gehört er längst zum Vergasen nach Grafeneck geschickt! [In Grafeneck auf der Schwäbischen Alb befand sich eine Tötungsanstalt der "Euthanasie"-Aktion T4] 20.1.44. Was für ein erbärmlich kleiner Mensch er in Wirklichkeit ist und wie viel "Größe" ihm von seinem Volk angedichtet worden ist, das wird die Zukunft lehren. Wenn einmal alle Nebelschwaden um diese Figur zerreißen und sie in erbärmlicher Nacktheit allen offenbar wird. Vielleicht – vielleicht ist das die Kur, die viele ruckartig von ihrer geistigen Erkrankung genesen lassen wird. Aber um davon genesen zu können, dazu gehört der Mut zur Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit gegen sich selbst. Die Deutschen 29.9.40. Ich kann freilich gar nichts ändern. Aber das eine kann ich doch tun: mir selber treu bleiben und dem, was ich dank meiner unverbogenen Vernunft und meinem gesunden Instinkt als gut und recht und menschenwürdig erkannt habe. 24.1.41. Zuweilen habe ich den Eindruck, als ob ein Massenwahnsinn das deutsche Volk ergriffen habe und als ob ein Gehirnschwund in großem Ausmaß um sich fräße. Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode. 29.6.42. Nichts bringt den Deutschen so sehr aus dem Gleichgewicht wie schmale Rationen. Die Judenmassaker, die Misshandlung und Aufopferung der Polen, der Russen, das Vorhandensein von Konzentrationslagern, die Entziehung aller persönlichen Freiheit: all das hat ihn zunächst nicht sehr erschüttert, solange nämlich nicht, als er die Auffassung haben konnte, dass diese Schandtaten den Lebensstandard des deutschen Volkes heben würden. Aber nun, [...] wo das Essen doch nicht reicher und besser geworden ist, nun beginnt er aufzuwachen. 21.8.42. Der Sohn unseres Gärtners kam in Urlaub. Von Russland! [...] Und besagter Urlauber von hier hat auch einiges "ausgeschwitzt". Z. B.: dass die gefangenen Russen, die mitgearbeitet hätten an dem neuen Führer-Hauptquartier, alle weggekommen seien. Wohin? Darauf gab ein Augenblinzeln die Antwort. Dass man die Juden zu Tausenden massakriere. Nackt ausgezogen müssen sie sich auf den Bauch legen, mit Maschinenpistole Schuss ins Genick! Aus! Frauen, Kinder, alle! Dass ganze Ortschaften ausgerottet werden, wenn auch nur einer sich muckst! Zur Ehre des jungen Mannes sei es gesagt: er schüttelte sich vor Entsetzen! 28.10.42. Mein Nachbar Apotheker, der ewige Optimist und Nachschwätzer, sagte heute auf meine Frage nach dem Stand der Dinge in Ägypten, beklommen und mit tiefen Querfalten auf der Stirne: "Es gibt mir zu denken, dass man im OKW-Bericht von ›hartem Kämpfen‹ spricht, und dass wir so wenig Flugzeuge abgeschossen haben bis jetzt. Aber", fügte er munter hinzu, "es ist gar keine Frage, dass Rommels Front dem Ansturm standhält. Das ist über jeden Zweifel erhaben." 25.3.43. Die [...] Schulleiterin der großen Mädchenoberschule sagte in ihrer Entlassungsrede zu den Abiturientinnen: "Lieber gebt ein gut Teil Eures Verstandes hin als Euren Glauben an Hitler!" 11.5.40. Wozu wohl ein Mozart, ein Beethoven, ein Goethe gelebt und ihre Werke geschaffen haben, wenn wir Heutigen nichts anderes wissen als töten und zerstören? 17.9.40. Heute habe ich Musik gehört. [...] Es war ein Erlebnis, das ich nicht beschreiben kann. Der Eindruck, den die paar süßen Harmonien heute auf mich machten, beweist mir, dass ich in all dem Jammer, der Sorge, ob all des Hastens und Jagens um des Tages Notwendigkeiten tatsächlich vergessen habe, dass es überhaupt etwas so Köstliches gibt wie Musik! Warum gibt es das? Und daneben….? Nein, man kann das nicht zusammenreimen, und wenn man tausendmal nach einer Erklärung dafür fragt [...]. 10.3.41. Wenn schon unsere Dichter (Hans Heinrich Ehrler) in brünstigem Gestammel die "Stimme des Führers" verherrlichen, was soll man da noch sagen? "Geisteskrank!" Das sind die einzig mildernden Umstände, die dem Deutschland von heute zugebilligt werden können. 13.10.41. Bachkantaten in der Kirche! Wir gingen hin; es war ein Erlebnis. Richtiger: es wäre ein großes, ein erhebendes Erlebnis geworden, wenn das Volk, dem ich angehöre, nicht ein immer größeres Fragezeichen für mich würde! [...] da hörte ich einen dieser ergriffenen Mitsänger auf der Heimfahrt in der Straßenbahn sagen: "Ist doch ganz in Ordnung! Weg mit den Bestien, den Untermenschen, dem Gesindel!" Und damit meinte er das, was man im Namen Deutschlands an den russischen Gefangenen tut. 2.11.41. Wenn wir Tolstoi läsen, könnten wir vielleicht auf den komischen Gedanken kommen, dass auch in Russland Menschen leben mit fühlenden Herzen, Menschen, die ihr Glück und Leid durchs Leben tragen wie wir [...]. 2.2.42. [...] ich habe auch Thomas Manns Botschaft gehört (über die 800 holländischen Juden, die zu Giftgas-Experimenten nach Deutschland gebracht worden seien). Was Lindley Fraser sagte, was Thomas Mann, was Richard Crossman oder Richardson sagen: all das ist in meiner Sprache gesprochen. Das verstehe ich unmittelbar; es ist das, was ich denke, was ich fühle, wie ich mich zur Welt einstelle. Aber was die meisten deutschen Menschen sagen, das macht mir physisch übel. 19.8.41. England und Russland werden uns noch viel Leid zufügen müssen, um uns damit von außen her die Möglichkeit, uns zu erheben, zu schaffen! Von innen her ist nichts zu erwarten! Auch nicht vom Militär! Was von dort käme, wäre von vornherein eine faule Sache! Schluss muss werden mit der Verhimmelung des Militärs, Schluss mit dem verruchten Militarismus! Eine andere Welt muss kommen! Bei Gott, ich werde meine Jahre vergessen und helfen, sie zu gestalten. 11.6.42. Ich bin ganz erfüllt von der Nachricht des russisch-englischen Bündnisses, und ich musste noch hinauslaufen in die Natur und jetzt am Klavier noch einen Dankchoral spielen. Vielleicht, vielleicht sind wir dem Frieden näher, als wir zu hoffen wagen. Neujahr 1943. [...] die bange Frage: "Was wird später werden?" Kann eine Erneuerung, eine Umwertung der Werte im deutschen Seelen- und Geistesleben erreicht werden? Nicht nur aufgeklebt und nach außen zur Schau getragen dürfen die neuen Ideale sein. Durchdrungen müssen sich die jungen Menschen davon fühlen. Schamröte muss ihnen in die Wangen schießen, wenn sie an das zurückdenken, was ihnen diese Zeit, die nun ein Jahrzehnt auf uns lastet und uns würgt, als "Ideale" aufgenötigt hat! 26.7.43. Mussolini weggefegt! Meldet Radio London! Schnell ans Klavier! "Nun danket alle Gott!" Nichts könnte besser sagen, was ich fühle. Hoffnung! Hoffnung! [...] Bald wird das Leben wieder beginnen! Das Leben mit so viel Schönem, Interessantem, Gutem! [...] Nicht mehr jenes "deutsche" Leben, das schlimmer ist als der Tod! 22.1.44. Nun bedeutet aber, meiner Auffassung nach, der verlorene Krieg das radikale Ende der Nazi-Herrschaft und aller ihrer Einrichtungen. [...] Es bedeutet: man wird seine Kinder wieder selbst erziehen können, und sich nicht mehr zu fürchten haben vor den kleinen irregeleiteten fanatischen Denunzianten im Schoße der eigenen Familie. [Annas Bruder Adolf und weitere Familienmitglieder waren Anhänger des NS-Regimes] 12.3.44. SSSS – – bum! SSSS – – bum! So pfiff es um unser liebes armes Häusle. Scheiben prasselten, Steine polterten, Türen stürzten, Baumstämme sausten durch die Luft, schlugen auf das Dach, Brandgeruch, Rauch, Staubwolken! Brausen, Zischen, Prasseln ... Woher? Was war es? FFFF! Eine Luftmine! Platt auf die Erde liegen! Vorbei. Wir leben noch in unserem windigen Kellerchen! Schon pfeift die nächste! Herr, erbarme dich unser! Eine Stunde schon! Aber nun – – nun wird das Grollen in die Ferne getragen, es ist über uns hinweggebraust: wir leben noch. Unfassbar: wir leben! Wir können gehen, die Arme bewegen, die Beine! Uns bei den Händen fassen! Wir können weinen! Weinen! Welche Erlösung! Neujahr 45. Sich das Kriegsende vorzustellen! Sich die Leere vorzustellen, den Abgrund, das Nichts, vor dem wir in Deutschland stehen werden! Es macht mich heute schon schaudern. Ein Nichts im Geldwesen, auf dem Warenmarkt, im Schulwesen, in der Literatur, ein Nichts hinsichtlich der moralischen Begriffe. Nichts, was man brauchen könnte für den Neubeginn. Wir sind unterhalb des "Nichts" angekommen. Ostermontag 45. Ein [...] Nachbar, überzeugter, glühender Nationalsozialist, ein "Edel- Nationalsozialist", schleicht als gebrochener Mann am Haus vorbei. "Alles ist zusammengebrochen, alles", klagt er. "Ich habe in einem großen Irrtum gelebt! Wir sind betrogen! Betrogen!" 9.4.45. Dem Kriegsende so nahe, und doch steht alles noch in Frage: Leben, Hab und Gut. Beides ist von zwei Seiten bedroht, von "Freund" und "Feind". Der "Freund" bedroht es, weil wir nicht "feindlich genug sind" den "Feinden" gegenüber, die in Wirklichkeit unsere "Freunde" sind. Man hört wieder Artillerie. 22.4.45 [ihr letzter Eintrag; in Stuttgart marschieren alliierte Truppen ein]. Nun werde ich in den Garten gehen. Ich werde ein paar Narzissen schneiden. Ich werde mich an ihnen freuen. Ich werde die blaue Frühlingsluft in mich trinken – ganz ohne Angst, dass es aus ihrer Reinheit todbringende Geschosse regnen könnte. Ich werde ein kleines Lied summen, und alles Menschenglück wird wieder mein sein. Und ich werde versuchen, meinen Schwur zu halten, nämlich: an der Gesundung meines Volkes von geistig-seelischer Erkrankung mitzuarbeiten. Anna Haag hat ihr Versprechen gehalten. Unermüdlich hat sie sich für ein demokratisches Deutschland engagiert. Sie setzte sich für Frauenrechte und gegen den Abtreibungsparagrafen 218 ein. 1946 wurde sie Landtagsabgeordnete der SPD, der sie schon zur Weimarer Zeit angehört hatte. 1947 brachte sie den Gesetzentwurf zur Kriegsdienstverweigerung auf den Weg, der dem Pazifismus schließlich Verfassungsrang verlieh: "Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden" – so heißt es, dank Anna Haag, im Grundgesetz, eine unmittelbare Lehre aus den Kriegsjahren, die sie in ihrem Tagebuch geschildert hat. 1982 starb sie, 93 Jahre alt, in Stuttgart. Anna Haag: "Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode".  Tagebuch 1940–1945;  Reclam; 448 S., 35,– € Auszug aus: https://www.zeit.de/2021/11/anna-haag-kriegstagebuch-zweiter-weltkrieg- nationalsozialismus/komplettansicht
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Anna Haag: "Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode". Tagebuch 1940–1945
14.11.40. Der "Führer" ist bereits eine mythische Gestalt im deutschen Volk, ein "böser Geist", gegen den niemand etwas zu äußern, ja nicht einmal im Geheimen zu denken wagt, weil man – abergläubisch, wie man ist – fürchtet, er könnte sich rächen, er sei ein Gott, ein böser Gott, der alles weiß und alles bestraft. Wie entsetzlich, was alles im Namen des deutschen Volkes geschieht. 14.12.40. Man kann gespannt sein, wie lange es noch dauern wird, bis sich das deutsche Volk seines selbstgemachten Gottes gründlich zu schämen beginnt! Bis die Scham so  angewachsen ist, dass jeder es für seine Ehre hält, sich öffentlich für sich selbst zu schämen darüber, dass er mitgeholfen hat, diesen Popanz zu einem Gott aufzuputzen! 12.12.41. Er ist ein Geisteskranker – nicht ein Haar anders als jener, der sich einbildet, der Schah von Persien zu sein. Nach nationalsozialistischer Methode gehört er längst zum Vergasen nach Grafeneck geschickt! [In Grafeneck auf der Schwäbischen Alb befand sich eine Tötungsanstalt der "Euthanasie"-Aktion T4] 20.1.44. Was für ein erbärmlich kleiner Mensch er in Wirklichkeit ist und wie viel "Größe" ihm von seinem Volk angedichtet worden ist, das wird die Zukunft lehren. Wenn einmal alle Nebelschwaden um diese Figur zerreißen und sie in erbärmlicher Nacktheit allen offenbar wird. Vielleicht – vielleicht ist das die Kur, die viele ruckartig von ihrer geistigen Erkrankung genesen lassen wird. Aber um davon genesen zu können, dazu gehört der Mut zur Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit gegen sich selbst. Die Deutschen 29.9.40. Ich kann freilich gar nichts ändern. Aber das eine kann ich doch tun: mir selber treu bleiben und dem, was ich dank meiner unverbogenen Vernunft und meinem gesunden Instinkt als gut und recht und menschenwürdig erkannt habe. 24.1.41. Zuweilen habe ich den Eindruck, als ob ein Massenwahnsinn das deutsche Volk ergriffen habe und als ob ein Gehirnschwund in großem Ausmaß um sich fräße. Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode. 29.6.42. Nichts bringt den Deutschen so sehr aus dem Gleichgewicht wie schmale Rationen. Die Judenmassaker, die Misshandlung und Aufopferung der Polen, der Russen, das Vorhandensein von Konzentrationslagern, die Entziehung aller persönlichen Freiheit: all das hat ihn zunächst nicht sehr erschüttert, solange nämlich nicht, als er die Auffassung haben konnte, dass diese Schandtaten den Lebensstandard des deutschen Volkes heben würden. Aber nun, [...] wo das Essen doch nicht reicher und besser geworden ist, nun beginnt er aufzuwachen. 21.8.42. Der Sohn unseres Gärtners kam in Urlaub. Von Russland! [...] Und besagter Urlauber von hier hat auch einiges "ausgeschwitzt". Z. B.: dass die gefangenen Russen, die mitgearbeitet hätten an dem neuen Führer- Hauptquartier, alle weggekommen seien. Wohin? Darauf gab ein Augenblinzeln die Antwort. Dass man die Juden zu Tausenden massakriere. Nackt ausgezogen müssen sie sich auf den Bauch legen, mit Maschinenpistole Schuss ins Genick! Aus! Frauen, Kinder, alle! Dass ganze Ortschaften ausgerottet werden, wenn auch nur einer sich muckst! Zur Ehre des jungen Mannes sei es gesagt: er schüttelte sich vor Entsetzen! 28.10.42. Mein Nachbar Apotheker, der ewige Optimist und Nachschwätzer, sagte heute auf meine Frage nach dem Stand der Dinge in Ägypten, beklommen und mit tiefen Querfalten auf der Stirne: "Es gibt mir zu denken, dass man im OKW-Bericht von ›hartem Kämpfen‹ spricht, und dass wir so wenig Flugzeuge abgeschossen haben bis jetzt. Aber", fügte er munter hinzu, "es ist gar keine Frage, dass Rommels Front dem Ansturm standhält. Das ist über jeden Zweifel erhaben." 25.3.43. Die [...] Schulleiterin der großen Mädchenoberschule sagte in ihrer Entlassungsrede zu den Abiturientinnen: "Lieber gebt ein gut Teil Eures Verstandes hin als Euren Glauben an Hitler!" 11.5.40. Wozu wohl ein Mozart, ein Beethoven, ein Goethe gelebt und ihre Werke geschaffen haben, wenn wir Heutigen nichts anderes wissen als töten und zerstören? 17.9.40. Heute habe ich Musik gehört. [...] Es war ein Erlebnis, das ich nicht beschreiben kann. Der Eindruck, den die paar süßen Harmonien heute auf mich machten, beweist mir, dass ich in all dem Jammer, der Sorge, ob all des Hastens und Jagens um des Tages Notwendigkeiten tatsächlich vergessen habe, dass es überhaupt etwas so Köstliches gibt wie Musik! Warum gibt es das? Und daneben….? Nein, man kann das nicht zusammenreimen, und wenn man tausendmal nach einer Erklärung dafür fragt [...]. 10.3.41. Wenn schon unsere Dichter (Hans Heinrich Ehrler) in brünstigem Gestammel die "Stimme des Führers" verherrlichen, was soll man da noch sagen? "Geisteskrank!" Das sind die einzig mildernden Umstände, die dem Deutschland von heute zugebilligt werden können. 13.10.41. Bachkantaten in der Kirche! Wir gingen hin; es war ein Erlebnis. Richtiger: es wäre ein großes, ein erhebendes Erlebnis geworden, wenn das Volk, dem ich angehöre, nicht ein immer größeres Fragezeichen für mich würde! [...] da hörte ich einen dieser ergriffenen Mitsänger auf der Heimfahrt in der Straßenbahn sagen: "Ist doch ganz in Ordnung! Weg mit den Bestien, den Untermenschen, dem Gesindel!" Und damit meinte er das, was man im Namen Deutschlands an den russischen Gefangenen tut. 2.11.41. Wenn wir Tolstoi läsen, könnten wir vielleicht auf den komischen Gedanken kommen, dass auch in Russland Menschen leben mit fühlenden Herzen, Menschen, die ihr Glück und Leid durchs Leben tragen wie wir [...]. 2.2.42. [...] ich habe auch Thomas Manns Botschaft gehört (über die 800 holländischen Juden, die zu Giftgas- Experimenten nach Deutschland gebracht worden seien). Was Lindley Fraser sagte, was Thomas Mann, was Richard Crossman oder Richardson sagen: all das ist in meiner Sprache gesprochen. Das verstehe ich unmittelbar; es ist das, was ich denke, was ich fühle, wie ich mich zur Welt einstelle. Aber was die meisten deutschen Menschen sagen, das macht mir physisch übel. 19.8.41. England und Russland werden uns noch viel Leid zufügen müssen, um uns damit von außen her die Möglichkeit, uns zu erheben, zu schaffen! Von innen her ist nichts zu erwarten! Auch nicht vom Militär! Was von dort käme, wäre von vornherein eine faule Sache! Schluss muss werden mit der Verhimmelung des Militärs, Schluss mit dem verruchten Militarismus! Eine andere Welt muss kommen! Bei Gott, ich werde meine Jahre vergessen und helfen, sie zu gestalten. 11.6.42. Ich bin ganz erfüllt von der Nachricht des russisch-englischen Bündnisses, und ich musste noch hinauslaufen in die Natur und jetzt am Klavier noch einen Dankchoral spielen. Vielleicht, vielleicht sind wir dem Frieden näher, als wir zu hoffen wagen. Neujahr 1943. [...] die bange Frage: "Was wird später werden?" Kann eine Erneuerung, eine Umwertung der Werte im deutschen Seelen- und Geistesleben erreicht werden? Nicht nur aufgeklebt und nach außen zur Schau getragen dürfen die neuen Ideale sein. Durchdrungen müssen sich die jungen Menschen davon fühlen. Schamröte muss ihnen in die Wangen schießen, wenn sie an das zurückdenken, was ihnen diese Zeit, die nun ein Jahrzehnt auf uns lastet und uns würgt, als "Ideale" aufgenötigt hat! 26.7.43. Mussolini weggefegt! Meldet Radio London! Schnell ans Klavier! "Nun danket alle Gott!" Nichts könnte besser sagen, was ich fühle. Hoffnung! Hoffnung! [...] Bald wird das Leben wieder beginnen! Das Leben mit so viel Schönem, Interessantem, Gutem! [...] Nicht mehr jenes "deutsche" Leben, das schlimmer ist als der Tod! 22.1.44. Nun bedeutet aber, meiner Auffassung nach, der verlorene Krieg das radikale Ende der Nazi-Herrschaft und aller ihrer Einrichtungen. [...] Es bedeutet: man wird seine Kinder wieder selbst erziehen können, und sich nicht mehr zu fürchten haben vor den kleinen irregeleiteten fanatischen Denunzianten im Schoße der eigenen Familie. [Annas Bruder Adolf und weitere Familienmitglieder waren Anhänger des NS-Regimes] 12.3.44. SSSS – – bum! SSSS – – bum! So pfiff es um unser liebes armes Häusle. Scheiben prasselten, Steine polterten, Türen stürzten, Baumstämme sausten durch die Luft, schlugen auf das Dach, Brandgeruch, Rauch, Staubwolken! Brausen, Zischen, Prasseln ... Woher? Was war es? FFFF! Eine Luftmine! Platt auf die Erde liegen! Vorbei. Wir leben noch in unserem windigen Kellerchen! Schon pfeift die nächste! Herr, erbarme dich unser! Eine Stunde schon! Aber nun – – nun wird das Grollen in die Ferne getragen, es ist über uns hinweggebraust: wir leben noch. Unfassbar: wir leben! Wir können gehen, die Arme bewegen, die Beine! Uns bei den Händen fassen! Wir können weinen! Weinen! Welche Erlösung! Neujahr 45. Sich das Kriegsende vorzustellen! Sich die Leere vorzustellen, den Abgrund, das Nichts, vor dem wir in Deutschland stehen werden! Es macht mich heute schon schaudern. Ein Nichts im Geldwesen, auf dem Warenmarkt, im Schulwesen, in der Literatur, ein Nichts hinsichtlich der moralischen Begriffe. Nichts, was man brauchen könnte für den Neubeginn. Wir sind unterhalb des "Nichts" angekommen. Ostermontag 45. Ein [...] Nachbar, überzeugter, glühender Nationalsozialist, ein "Edel- Nationalsozialist", schleicht als gebrochener Mann am Haus vorbei. "Alles ist zusammengebrochen, alles", klagt er. "Ich habe in einem großen Irrtum gelebt! Wir sind betrogen! Betrogen!" 9.4.45. Dem Kriegsende so nahe, und doch steht alles noch in Frage: Leben, Hab und Gut. Beides ist von zwei Seiten bedroht, von "Freund" und "Feind". Der "Freund" bedroht es, weil wir nicht "feindlich genug sind" den "Feinden" gegenüber, die in Wirklichkeit unsere "Freunde" sind. Man hört wieder Artillerie. 22.4.45 [ihr letzter Eintrag; in Stuttgart marschieren alliierte Truppen ein]. Nun werde ich in den Garten gehen. Ich werde ein paar Narzissen schneiden. Ich werde mich an ihnen freuen. Ich werde die blaue Frühlingsluft in mich trinken – ganz ohne Angst, dass es aus ihrer Reinheit todbringende Geschosse regnen könnte. Ich werde ein kleines Lied summen, und alles Menschenglück wird wieder mein sein. Und ich werde versuchen, meinen Schwur zu halten, nämlich: an der Gesundung meines Volkes von geistig-seelischer Erkrankung mitzuarbeiten. Anna Haag hat ihr Versprechen gehalten. Unermüdlich hat sie sich für ein demokratisches Deutschland engagiert. Sie setzte sich für Frauenrechte und gegen den Abtreibungsparagrafen 218 ein. 1946 wurde sie Landtagsabgeordnete der SPD, der sie schon zur Weimarer Zeit angehört hatte. 1947 brachte sie den Gesetzentwurf zur Kriegsdienstverweigerung auf den Weg, der dem Pazifismus schließlich Verfassungsrang verlieh: "Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden" – so heißt es, dank Anna Haag, im Grundgesetz, eine unmittelbare Lehre aus den Kriegsjahren, die sie in ihrem Tagebuch geschildert hat. 1982 starb sie, 93 Jahre alt, in Stuttgart. Anna Haag: "Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode".  Tagebuch 1940–1945;  Reclam; 448 S., 35,– € Auszug aus: https://www.zeit.de/2021/11/anna-haag- kriegstagebuch-zweiter-weltkrieg- nationalsozialismus/komplettansicht
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Anna Haag: "Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode". Tagebuch 1940–1945
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