Siegfried
Trapp
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14.11.40. Der "Führer" ist
bereits eine mythische Gestalt
im deutschen Volk, ein "böser
Geist", gegen den niemand
etwas zu äußern, ja nicht
einmal im Geheimen zu denken
wagt, weil man – abergläubisch,
wie man ist – fürchtet, er
könnte sich rächen, er sei ein
Gott, ein böser Gott, der alles
weiß und alles bestraft. Wie
entsetzlich, was alles im Namen
des deutschen Volkes geschieht.
14.12.40. Man kann gespannt
sein, wie lange es noch dauern
wird, bis sich das deutsche Volk seines selbstgemachten Gottes gründlich
zu schämen beginnt! Bis die Scham so angewachsen ist, dass jeder es für
seine Ehre hält, sich öffentlich für sich selbst zu schämen darüber, dass
er mitgeholfen hat, diesen Popanz zu einem Gott aufzuputzen!
12.12.41. Er ist ein Geisteskranker – nicht ein Haar anders als jener, der
sich einbildet, der Schah von Persien zu sein. Nach nationalsozialistischer
Methode gehört er längst zum Vergasen nach Grafeneck geschickt! [In
Grafeneck auf der Schwäbischen Alb befand sich eine Tötungsanstalt der
"Euthanasie"-Aktion T4]
20.1.44. Was für ein erbärmlich kleiner Mensch er in Wirklichkeit ist und
wie viel "Größe" ihm von seinem Volk angedichtet worden ist, das wird
die Zukunft lehren. Wenn einmal alle Nebelschwaden um diese Figur
zerreißen und sie in erbärmlicher Nacktheit allen offenbar wird.
Vielleicht – vielleicht ist das die Kur, die viele ruckartig von ihrer
geistigen Erkrankung genesen lassen wird. Aber um davon genesen zu
können, dazu gehört der Mut zur Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit gegen
sich selbst.
Die Deutschen
29.9.40. Ich kann freilich gar nichts ändern. Aber das eine kann ich doch
tun: mir selber treu bleiben und dem, was ich dank meiner unverbogenen
Vernunft und meinem gesunden Instinkt als gut und recht und
menschenwürdig erkannt habe.
24.1.41. Zuweilen habe ich den Eindruck, als ob ein Massenwahnsinn das
deutsche Volk ergriffen habe und als ob ein Gehirnschwund in großem
Ausmaß um sich fräße. Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode.
29.6.42. Nichts bringt den Deutschen so sehr aus dem Gleichgewicht wie
schmale Rationen. Die Judenmassaker, die Misshandlung und Aufopferung
der Polen, der Russen, das Vorhandensein von Konzentrationslagern, die
Entziehung aller persönlichen Freiheit: all das hat ihn zunächst nicht sehr
erschüttert, solange nämlich nicht, als er die Auffassung haben konnte,
dass diese Schandtaten den Lebensstandard des deutschen Volkes heben
würden. Aber nun, [...] wo das Essen doch nicht reicher und besser
geworden ist, nun beginnt er aufzuwachen.
21.8.42. Der Sohn unseres Gärtners kam in Urlaub. Von Russland! [...]
Und besagter Urlauber von hier hat auch einiges "ausgeschwitzt". Z. B.:
dass die gefangenen Russen, die mitgearbeitet hätten an dem neuen
Führer-Hauptquartier, alle weggekommen seien. Wohin? Darauf gab ein
Augenblinzeln die Antwort. Dass man die Juden zu Tausenden
massakriere. Nackt ausgezogen müssen sie sich auf den Bauch legen, mit
Maschinenpistole Schuss ins Genick! Aus! Frauen, Kinder, alle! Dass ganze
Ortschaften ausgerottet werden, wenn auch nur einer sich muckst! Zur
Ehre des jungen Mannes sei es gesagt: er schüttelte sich vor Entsetzen!
28.10.42. Mein Nachbar Apotheker, der ewige Optimist und
Nachschwätzer, sagte heute auf meine Frage nach dem Stand der Dinge in
Ägypten, beklommen und mit tiefen Querfalten auf der Stirne: "Es gibt
mir zu denken, dass man im OKW-Bericht von ›hartem Kämpfen‹ spricht,
und dass wir so wenig Flugzeuge abgeschossen haben bis jetzt. Aber ‒",
fügte er munter hinzu, "es ist gar keine Frage, dass Rommels Front dem
Ansturm standhält. Das ist über jeden Zweifel erhaben."
25.3.43. Die [...] Schulleiterin der großen Mädchenoberschule sagte in
ihrer Entlassungsrede zu den Abiturientinnen: "Lieber gebt ein gut Teil
Eures Verstandes hin als Euren Glauben an Hitler!"
11.5.40. Wozu wohl ein Mozart, ein Beethoven, ein Goethe gelebt und
ihre Werke geschaffen haben, wenn wir Heutigen nichts anderes wissen
als töten und zerstören?
17.9.40. Heute habe ich Musik gehört. [...] Es war ein Erlebnis, das ich
nicht beschreiben kann. Der Eindruck, den die paar süßen Harmonien
heute auf mich machten, beweist mir, dass ich in all dem Jammer, der
Sorge, ob all des Hastens und Jagens um des Tages Notwendigkeiten
tatsächlich vergessen habe, dass es überhaupt etwas so Köstliches gibt
wie Musik! Warum gibt es das? Und daneben ‒ ‒? Nein, man kann das
nicht zusammenreimen, und wenn man tausendmal nach einer Erklärung
dafür fragt [...].
10.3.41. Wenn schon unsere Dichter (Hans Heinrich Ehrler) in brünstigem
Gestammel die "Stimme des Führers" verherrlichen, was soll man da noch
sagen? "Geisteskrank!" Das sind die einzig mildernden Umstände, die dem
Deutschland von heute zugebilligt werden können.
13.10.41. Bachkantaten in der Kirche! Wir gingen hin; es war ein
Erlebnis. Richtiger: es wäre ein großes, ein erhebendes Erlebnis
geworden, wenn das Volk, dem ich angehöre, nicht ein immer größeres
Fragezeichen für mich würde! [...] da hörte ich einen dieser ergriffenen
Mitsänger auf der Heimfahrt in der Straßenbahn sagen: "Ist doch ganz in
Ordnung! Weg mit den Bestien, den Untermenschen, dem Gesindel!" Und
damit meinte er das, was man im Namen Deutschlands an den russischen
Gefangenen tut.
2.11.41. Wenn wir Tolstoi läsen, könnten wir vielleicht auf den
komischen Gedanken kommen, dass auch in Russland Menschen leben mit
fühlenden Herzen, Menschen, die ihr Glück und Leid durchs Leben tragen
wie wir [...].
2.2.42. [...] ich habe auch Thomas Manns Botschaft gehört (über die 800
holländischen Juden, die zu Giftgas-Experimenten nach Deutschland
gebracht worden seien). Was Lindley Fraser sagte, was Thomas Mann, was
Richard Crossman oder Richardson sagen: all das ist in meiner Sprache
gesprochen. Das verstehe ich unmittelbar; es ist das, was ich denke, was
ich fühle, wie ich mich zur Welt einstelle. Aber was die meisten
deutschen Menschen sagen, das macht mir physisch übel.
19.8.41. England und Russland werden uns noch viel Leid zufügen
müssen, um uns damit von außen her die Möglichkeit, uns zu erheben, zu
schaffen! Von innen her ist nichts zu erwarten! Auch nicht vom Militär!
Was von dort käme, wäre von vornherein eine faule Sache! Schluss muss
werden mit der Verhimmelung des Militärs, Schluss mit dem verruchten
Militarismus! Eine andere Welt muss kommen! Bei Gott, ich werde meine
Jahre vergessen und helfen, sie zu gestalten.
11.6.42. Ich bin ganz erfüllt von der Nachricht des russisch-englischen
Bündnisses, und ich musste noch hinauslaufen in die Natur und jetzt am
Klavier noch einen Dankchoral spielen. Vielleicht, vielleicht sind wir dem
Frieden näher, als wir zu hoffen wagen.
Neujahr 1943. [...] die bange Frage: "Was wird später werden?" Kann eine
Erneuerung, eine Umwertung der Werte im deutschen Seelen- und
Geistesleben erreicht werden? Nicht nur aufgeklebt und nach außen zur
Schau getragen dürfen die neuen Ideale sein. Durchdrungen müssen sich
die jungen Menschen davon fühlen. Schamröte muss ihnen in die Wangen
schießen, wenn sie an das zurückdenken, was ihnen diese Zeit, die nun
ein Jahrzehnt auf uns lastet und uns würgt, als "Ideale" aufgenötigt hat!
26.7.43. Mussolini weggefegt! Meldet Radio London! Schnell ans Klavier!
"Nun danket alle Gott!" Nichts könnte besser sagen, was ich fühle.
Hoffnung! Hoffnung! [...] Bald wird das Leben wieder beginnen! Das
Leben mit so viel Schönem, Interessantem, Gutem! [...] Nicht mehr jenes
"deutsche" Leben, das schlimmer ist als der Tod!
22.1.44. Nun bedeutet aber, meiner Auffassung nach, der verlorene Krieg
das radikale Ende der Nazi-Herrschaft und aller ihrer Einrichtungen. [...]
Es bedeutet: man wird seine Kinder wieder selbst erziehen können, und
sich nicht mehr zu fürchten haben vor den kleinen irregeleiteten
fanatischen Denunzianten im Schoße der eigenen Familie. [Annas Bruder
Adolf und weitere Familienmitglieder waren Anhänger des NS-Regimes]
12.3.44. SSSS – – bum! SSSS – – bum! So pfiff es um unser liebes armes
Häusle. Scheiben prasselten, Steine polterten, Türen stürzten,
Baumstämme sausten durch die Luft, schlugen auf das Dach,
Brandgeruch, Rauch, Staubwolken! Brausen, Zischen, Prasseln ... Woher?
Was war es? FFFF! Eine Luftmine! Platt auf die Erde liegen! Vorbei. Wir
leben noch in unserem windigen Kellerchen! Schon pfeift die nächste!
Herr, erbarme dich unser! Eine Stunde schon! Aber nun – – nun wird das
Grollen in die Ferne getragen, es ist über uns hinweggebraust: wir leben
noch. Unfassbar: wir leben! Wir können gehen, die Arme bewegen, die
Beine! Uns bei den Händen fassen! Wir können weinen! Weinen! Welche
Erlösung!
Neujahr 45. Sich das Kriegsende vorzustellen! Sich die Leere
vorzustellen, den Abgrund, das Nichts, vor dem wir in Deutschland stehen
werden! Es macht mich heute schon schaudern. Ein Nichts im Geldwesen,
auf dem Warenmarkt, im Schulwesen, in der Literatur, ein Nichts
hinsichtlich der moralischen Begriffe. Nichts, was man brauchen könnte
für den Neubeginn. Wir sind unterhalb des "Nichts" angekommen.
Ostermontag 45. Ein [...] Nachbar, überzeugter, glühender
Nationalsozialist, ein "Edel-Nationalsozialist", schleicht als gebrochener
Mann am Haus vorbei. "Alles ist zusammengebrochen, alles", klagt er. "Ich
habe in einem großen Irrtum gelebt! Wir sind betrogen! Betrogen!"
9.4.45. Dem Kriegsende so nahe, und doch steht alles noch in Frage:
Leben, Hab und Gut. Beides ist von zwei Seiten bedroht, von "Freund"
und "Feind". Der "Freund" bedroht es, weil wir nicht "feindlich genug
sind" den "Feinden" gegenüber, die in Wirklichkeit unsere "Freunde" sind.
Man hört wieder Artillerie.
22.4.45 [ihr letzter Eintrag; in Stuttgart marschieren alliierte Truppen
ein]. Nun werde ich in den Garten gehen. Ich werde ein paar Narzissen
schneiden. Ich werde mich an ihnen freuen. Ich werde die blaue
Frühlingsluft in mich trinken – ganz ohne Angst, dass es aus ihrer Reinheit
todbringende Geschosse regnen könnte. Ich werde ein kleines Lied
summen, und alles Menschenglück wird wieder mein sein. Und ich werde
versuchen, meinen Schwur zu halten, nämlich: an der Gesundung meines
Volkes von geistig-seelischer Erkrankung mitzuarbeiten.
Anna Haag hat ihr Versprechen gehalten. Unermüdlich hat sie sich für
ein demokratisches Deutschland engagiert. Sie setzte sich für
Frauenrechte und gegen den Abtreibungsparagrafen 218 ein. 1946 wurde
sie Landtagsabgeordnete der SPD, der sie schon zur Weimarer Zeit
angehört hatte. 1947 brachte sie den Gesetzentwurf zur
Kriegsdienstverweigerung auf den Weg, der dem Pazifismus schließlich
Verfassungsrang verlieh: "Niemand darf gegen sein Gewissen zum
Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden" – so heißt es, dank Anna
Haag, im Grundgesetz, eine unmittelbare Lehre aus den Kriegsjahren,
die sie in ihrem Tagebuch geschildert hat. 1982 starb sie, 93 Jahre alt,
in Stuttgart.
Anna Haag: "Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode". Tagebuch
1940–1945; Reclam; 448 S., 35,– €
Auszug aus: https://www.zeit.de/2021/11/anna-haag-kriegstagebuch-zweiter-weltkrieg-nationalsozialismus/komplettansicht
Anna Haag: "Denken ist heute überhaupt nicht
mehr Mode". Tagebuch 1940–1945