Siegfried Trapp
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Der habgierige Frosch sitzt auf seinen Münzen – eine Allegorie aus dem 17. Jahrhundert.
Geld und Gier Libertäre Trickster: Warum funktionierte der Wirecard-Betrug so lange? Eine Erklärung Von Dieter Thomä 29. Juli 2020, 16:54 Uhr / Editiert am 2. August 2020, 15:38 Uhr / DIE ZEIT Nr. 32/2020, 30. Juli 2020 Ein Kartenhaus, das "House of Wirecard" (Dan McCrum, Financial Times), ist zusammengefallen. Der Börsenwert eines Dax-Unternehmens ist vernichtet. 1,9 Milliarden Euro sind irgendwie verschwunden oder waren nie da. Ein Film über den Skandal ist in Arbeit. Schuldsprüche gegen einzelne Personen stehen noch aus, aber Namen tun hier nichts zur Sache. Die Figuren, die in dieser Geschichte auftreten, sind Typen, die an Klischees entlangschrammen. Ein Chief Executive Officer, der als "Mann wie ein Algorithmus" (Spiegel) wirkt und nebenbei Martin Heidegger oder Hannah Arendt zitiert. Ein Chief Operating Officer, den seine Mutter einen "präpotenten Zampano" nennt und der sich angeblich gern Sushi auf nackten Frauenkörpern servieren lässt. Ein Unternehmensberater, der von seinem Amt als Bundesminister wegen eines erschlichenen Doktortitels zurücktreten musste. Ein Staatssekretär, der vor seinem Amtsantritt eine Führungsposition in einer großen Investmentbank innehatte. Eine leitende Mitarbeiterin der Wertpapieraufsicht, die zuvor an Cum-Ex-Geschäften einer Bank mitwirkte. Ein Chef einer Aufsichtsbehörde, dessen Hauptbeschäftigung darin zu bestehen scheint, sich für nicht zuständig zu erklären. Wer bei diesem Personal an das Nächstliegende denkt – Filz! –, liegt falsch. Filz ist ein robuster Pressstoff, der aus eng verschlungenen Fasern besteht. Hier hängt alles mit allem zusammen, nichts kann sich lösen, jeder ist darin verwickelt, und alle halten dicht. Filz ist, anders als die Finanzwelt, komplett fantasielos. Die Verführungskraft – und auch die Skandalträchtigkeit – der Finanzwelt hängt damit zusammen, dass sie Fantasien kanalisiert und auf die Zukunft ausrichtet: die Fantasien der Finanzjongleure, die Geschäftsfelder eröffnen oder Luftschlösser bauen, die Fantasien der Anleger, die auf steigende Kurse und Renditen hoffen, die Fantasien der Politiker, die als Ermöglicher und nicht als Verwalter in die Geschichte eingehen wollen. Wer bei diesem Spiel nicht mitspielt, gilt als Spielverderber, Bedenkenträger, bodenständiger Dickschädel oder einfach nur als Dummkopf, der sich ein Schnäppchen entgehen lässt. Zu diesem Spiel der Gier gehört die Neigung zum Regelbruch genauso dazu wie bei Mensch ärgere Dich nicht die Neigung zum Schummeln. Die Frage, ob es sich bei Wirecard um einen Einzelfall handelt, bei dem ausnahmsweise gegen allgemein geltende Regeln guten Geschäftsgebarens verstoßen wird, ist so vorgestrig, dass man sie sich eigentlich sparen kann. Diese Frage ist seit der letzten Finanzkrise geklärt. Als unübertrefflicher Beleg dafür taugt die Antwort, die Alexander Dibelius, damals Deutschland-Chef von Goldman Sachs, 2009 auf die Frage der Spiegel-Interviewer gab, ob seine Branche denn "kriminelle Energie" habe: "Nein, doch es gibt Einzelfälle wie Bernie Madoff, die aber auf fruchtbarem Boden gedeihen konnten." Dies ist eine für einen Mann dieses Kalibers erstaunlich verschwurbelte Antwort. Aufschlussreich sind vor allem die sich in den Schwanz beißenden Widersprüche: Nein, doch, aber ... Am Ende bleibt der "fruchtbare Boden" übrig, also eben die Auskunft, dass die vermeintlichen "Einzelfälle" keine sind. Viele giftige Früchte hat dieser Boden damals hervorgebracht, und er ist fruchtbar noch. Der Aufstieg von Wirecard ist ohne Komplizenschaft, Kollaboration, Betriebsblindheit, Gutgläubigkeit, Wunschdenken verschiedenster Beteiligter nicht zu erklären. Wenn man einen Schritt zurücktritt, dann ergeben sich drei Fragen: Warum ist die Sogwirkung der Finanzwelt so stark? Warum ist der Gegensog so gering? Und wie wird die Strömungslehre der Zukunft aussehen? Die Macht der Finanzwelt, zu der das FinTech-Unternehmen Wirecard gehört, zeigt sich unter anderem daran, dass sie mit physikalischen Gesetzen brechen kann. Sie setzt den Hebel, mit dem Menschen in Bewegung gebracht werden, an einer Stelle an, wo doch jeder Gegenhalt, jedes Widerlager fehlt: im Nichtort der Zukunft, auf die alle Fantasien eingenordet werden. Im Vergleich dazu sah der Riese Atlas, der die wirkliche Welt hätte aus den Angeln heben können, echt alt aus, denn er benötigte noch einen festen Standpunkt außerhalb dieser Welt und befand sich nicht im virtuellen Raum. Die Finanzwelt erscheint so attraktiv, weil sie mit einem doppelten Versprechen operiert. Auf der Makroebene verspricht sie Dynamik, Wachstum, Gewinn. Damit dieses Versprechen nicht von vornherein als Exklusivangebot für Privilegierte abschmiert, damit es also auf der Mikroebene funktioniert, muss es in einer Sprache verfasst sein, die jeder versteht und jedem zugänglich ist. Das ist die Sprache des Geldes. Mit Geld kann jeder etwas anfangen – und zwar deshalb, weil es wie eine Allzweckwaffe funktioniert: Es steht selbst für ein Versprechen – dafür, sich in alles Denk- und Wünschbare verwandeln zu können – und ist darauf geeicht, dieses Versprechen zu halten. So wird die Gier massenwirksam. Wer Geld zur Verfügung hat, kommt – wie der Philosoph Georg Simmel im Jahr 1900 gesagt hat – in den Genuss "absoluter Flüssigkeit" und "voll besessener Potenzialität". Dies erklärt das Machtgefühl des COO von Wirecard, der im Chat mit einem Vertrauten darüber fantasiert, eine Karibikinsel oder den Starnberger See kaufen zu wollen. Dies erklärt aber auch, warum so ein Typ nicht für verrückt erklärt wird und jahrelang im Mainstream sozialverträglicher Sehnsüchte mitgeschwommen ist. Gegenkräfte zur Gier sind schwach Warum waren die Gegenkräfte, die den Wirecard-Skandal hätten verhindern können, so schwach? Diese Frage bezieht sich – allgemein gesagt – auf das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik, zwischen individuellem Eigennutz und rechtlich-moralischen Regeln. Diverse Warnsignale, die schon vor Jahren zu blinken begannen, sind übersehen oder abgeschaltet worden. Die politischen Aufsichtsbehörden haben – gelinde gesagt – unbeholfen agiert. Die Wirtschaftsprüfer, die darauf achten sollten, ob im Unternehmen alles mit rechten Dingen zugeht, haben während langer Jahre einen ähnlich miserablen Job gemacht wie damals die Rating-Agenturen im Vorlauf zur Finanzkrise 2008. Zu diesem Versagen gehört ein Gelingen: Die Wirtschaftssubjekte schafften es, sich der Kontrolle zu entziehen und ihr Ding zu machen. Wer diese Dynamik verstehen will, muss in ein Buch schauen, das 1651 erschienen ist: Thomas Hobbes’ Leviathan. Hobbes warf in diesem Buch einen Blick auf eine amoralische Welt, eine Welt im sogenannten Naturzustand, in der jedes Individuum für "gut" hält, was ihm "Lust bringt", und für "böse" hält, "was Unlust bringt oder eine Belästigung darstellt". Hobbes glaubte nicht, dass dieser Egotrip auf Dauer gut gehen könne, aber er bemerkte, dass die Reichen besonders mit ihm liebäugeln. "Mittelmäßiger Reichtum" mache es möglich, "Freundschaften zu erwerben" und sich damit eine gewisse Sicherheit zu verschaffen. (Heute würde man dies Networking und Lobbyarbeit nennen.) Wenn der Reichtum sogar "ungeheuer" groß sei, dann stelle er einen "nahezu sicheren Schutz" in Aussicht. Hobbes schrieb "nahezu", um auch die Reichen dazu zu bewegen, sich an Gesetze zu halten, aber ungewollt entwarf er damals ein Drehbuch für diejenigen, die darauf pfeifen. Hobbes nahm zur Kenntnis, dass es für solche Typen "keine allgemeine Regel für Gut und Böse" gebe, sie legten sich diese Regel einfach so zurecht, wie sie ihnen in den Kram passe – jedenfalls "dort", wie er hinzufügte, "wo es keinen Staat gibt". Damit ist auch das Entscheidende über den Wirecard-Skandal gesagt. Einen Staat oder, allgemein gesagt, eine wirksame rechtliche Ordnung muss es geben, wenn man denjenigen, die das Gute nur zu ihren Gunsten auslegen, in die Quere kommen will. Und umgekehrt: Einen Staat oder eine wirksame rechtliche Ordnung werden diejenigen lästig finden, die auf eigene Faust zurechtzukommen meinen. Auf die von Hobbes porträtierten "Reichen" folgen diverse derartige Figuren. Mitte des 19. Jahrhunderts treten diejenigen auf, die sich in einer "Anarchie plus Schutzpolizist" (Thomas Carlyle) wohlfühlen. Dazu gesellt sich 1922 der von Fernando Pessoa porträtierte "anarchistische Bankier", der als "vollkommener Egoist" alle gesellschaftlichen Regeln für "Fiktionen" hält. Ihm folgen 1930 die von Robert Musil geschilderten "Direktoren der Banken", die überzeugt sind, "dass die Welt viel besser wäre, wenn man sie einfach dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage überließe" – und nicht "wirtschaftsunkundigen Diplomaten". Am Ende dieser Reihe stehen die libertären Trickster unserer Tage. Die Gegenkräfte zur Gier sind heutzutage deshalb so schwach, weil wirtschaftliche Akteure in Bereichen operieren können, in denen es, Hobbes’ Erwartung zum Trotz, tatsächlich "keinen Staat gibt" – oder jedenfalls nur einen schwachen Staat. Die Probleme sind bekannt: Zu ihnen gehören die Asymmetrie zwischen nationalen Rechtssystemen und globaler Wirtschaft sowie die Willfährigkeit der Staaten im Kampf um ökonomische Standortvorteile. Interessant ist in diesem Zusammenhang, auf welchem Wege das Wirecard-Kartenhaus zum Einsturz gebracht worden ist: nämlich nicht durch staatliche Kontrolle, sondern weil eine japanische Firma ihr Investment in Wirecard an die Bedingung einer zusätzlichen Buchprüfung koppelte, die schließlich das Schlamassel ans Licht brachte. Ob man sich auf die Selbstheilungskräfte der globalen Wirtschaft langfristig verlassen kann, ist zu bezweifeln. Derzeit gilt in diesem Bereich immer noch das "Prinzip der Arbeitsteilung", das Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften auf unübertreffliche Weise beschrieben hat. Unser "ganzes Zeitalter", so heißt es dort, "betet den Geist des Geldes an" und "beklagt das zugleich". In dieser gespaltenen Gesellschaft gibt es dann auf der einen Seite diejenigen, die ihre wirtschaftliche Tätigkeit "über Kontinente" ausbreiten und für ein "großes Geschäft" auch die "gerissensten" ihrer Konkurrenten reinlegen. Auf der anderen Seite stehen Politiker, "welche das ihnen wesensfremde, aber wichtige Gebiet der Wirtschaft mit der Vorsicht von Männern behandeln, die einen nicht ganz verlässlichen Elefanten zu pflegen haben". Zu ihnen gesellen sich "Intellektuelle", "Ablasszettelexistenzen" und "Bußprediger", deren "innere Mahnung zur Umkehr" folgenlos bleibt. Wie kann man dieser verhängnisvollen "Arbeitsteilung" ein Ende setzen? Wie lassen sich die Strömungsverhältnisse, in denen der Sog der Gier und der Gegensog des Rechts wirken, beeinflussen? Zwei Strategien bieten sich an. Diejenigen, die nach Musil für die "Mahnung der Umkehr" zuständig sind, müssen aus ihrer Nische oder Schmollecke heraustreten und nach der Macht greifen. Angesichts des Klimawandels ist es Zeit für eine Politik, in der soziale Bewegungen, Staaten und überstaatliche Organisationen nicht auf das Bremsen der wirtschaftlichen Dynamik, sondern auf das Umgestalten einer ganzen Lebensweise zielen. Diejenigen, die – wie Musil dies nannte – vom "Geist des Geldes" besessen und von der "Ichsucht" ergriffen sind, müssen eine Art Entziehungskur machen. Das klingt mühsam und schmerzhaft, ist es aber gar nicht. Denn die Gier nach Geld ist eine selten einfallslose und öde Angelegenheit. "Die Freude am Geldbesitz", so meinte Georg Simmel, "gleicht der Freude am Siege, die bei manchen Naturen so stark ist, dass sie gar nicht danach fragen, was sie denn eigentlich durch den Sieg gewinnen." Die Gier nach Geld basiert also auf einer Verwechslung, bei der man ein Mittel für den Zweck selbst hält und am Ende ziellos durchs Leben irrt. Bei Arthur Schopenhauer heißt es: "Das Geld ist die menschliche Glückseligkeit in abstracto; daher, wer nicht mehr fähig ist, sie in concreto zu genießen, sein ganzes Herz an dieselbe hängt. DIETER THOMÄ lehrt Philosophie an der Universität St. Gallen und veröffentlichte zuletzt bei Ullstein das Buch Warum Demokratien Helden brauchen (2019).
© strapp 2020
© Artokoloro/Alamy Stock
Der habgierige Frosch sitzt auf seinen Münzen – eine Allegorie aus dem 17. Jahrhundert.
Geld und Gier Libertäre Trickster: Warum funktionierte der Wirecard-Betrug so lange? Eine Erklärung Von Dieter Thomä 29. Juli 2020, 16:54 Uhr / Editiert am 2. August 2020, 15:38 Uhr / DIE ZEIT Nr. 32/2020, 30. Juli 2020 Ein Kartenhaus, das "House of Wirecard" (Dan McCrum, Financial Times), ist zusammengefallen. Der Börsenwert eines Dax-Unternehmens ist vernichtet. 1,9 Milliarden Euro sind irgendwie verschwunden oder waren nie da. Ein Film über den Skandal ist in Arbeit. Schuldsprüche gegen einzelne Personen stehen noch aus, aber Namen tun hier nichts zur Sache. Die Figuren, die in dieser Geschichte auftreten, sind Typen, die an Klischees entlangschrammen. Ein Chief Executive Officer, der als "Mann wie ein Algorithmus" (Spiegel) wirkt und nebenbei Martin Heidegger oder Hannah Arendt zitiert. Ein Chief Operating Officer, den seine Mutter einen "präpotenten Zampano" nennt und der sich angeblich gern Sushi auf nackten Frauenkörpern servieren lässt. Ein Unternehmensberater, der von seinem Amt als Bundesminister wegen eines erschlichenen Doktortitels zurücktreten musste. Ein Staatssekretär, der vor seinem Amtsantritt eine Führungsposition in einer großen Investmentbank innehatte. Eine leitende Mitarbeiterin der Wertpapieraufsicht, die zuvor an Cum-Ex-Geschäften einer Bank mitwirkte. Ein Chef einer Aufsichtsbehörde, dessen Hauptbeschäftigung darin zu bestehen scheint, sich für nicht zuständig zu erklären. Wer bei diesem Personal an das Nächstliegende denkt – Filz! –, liegt falsch. Filz ist ein robuster Pressstoff, der aus eng verschlungenen Fasern besteht. Hier hängt alles mit allem zusammen, nichts kann sich lösen, jeder ist darin verwickelt, und alle halten dicht. Filz ist, anders als die Finanzwelt, komplett fantasielos. Die Verführungskraft – und auch die Skandalträchtigkeit – der Finanzwelt hängt damit zusammen, dass sie Fantasien kanalisiert und auf die Zukunft ausrichtet: die Fantasien der Finanzjongleure, die Geschäftsfelder eröffnen oder Luftschlösser bauen, die Fantasien der Anleger, die auf steigende Kurse und Renditen hoffen, die Fantasien der Politiker, die als Ermöglicher und nicht als Verwalter in die Geschichte eingehen wollen. Wer bei diesem Spiel nicht mitspielt, gilt als Spielverderber, Bedenkenträger, bodenständiger Dickschädel oder einfach nur als Dummkopf, der sich ein Schnäppchen entgehen lässt. Zu diesem Spiel der Gier gehört die Neigung zum Regelbruch genauso dazu wie bei Mensch ärgere Dich nicht die Neigung zum Schummeln. Die Frage, ob es sich bei Wirecard um einen Einzelfall handelt, bei dem ausnahmsweise gegen allgemein geltende Regeln guten Geschäftsgebarens verstoßen wird, ist so vorgestrig, dass man sie sich eigentlich sparen kann. Diese Frage ist seit der letzten Finanzkrise geklärt. Als unübertrefflicher Beleg dafür taugt die Antwort, die Alexander Dibelius, damals Deutschland-Chef von Goldman Sachs, 2009 auf die Frage der Spiegel- Interviewer gab, ob seine Branche denn "kriminelle Energie" habe: "Nein, doch es gibt Einzelfälle wie Bernie Madoff, die aber auf fruchtbarem Boden gedeihen konnten." Dies ist eine für einen Mann dieses Kalibers erstaunlich verschwurbelte Antwort. Aufschlussreich sind vor allem die sich in den Schwanz beißenden Widersprüche: Nein, doch, aber ... Am Ende bleibt der "fruchtbare Boden" übrig, also eben die Auskunft, dass die vermeintlichen "Einzelfälle" keine sind. Viele giftige Früchte hat dieser Boden damals hervorgebracht, und er ist fruchtbar noch. Der Aufstieg von Wirecard ist ohne Komplizenschaft, Kollaboration, Betriebsblindheit, Gutgläubigkeit, Wunschdenken verschiedenster Beteiligter nicht zu erklären. Wenn man einen Schritt zurücktritt, dann ergeben sich drei Fragen: Warum ist die Sogwirkung der Finanzwelt so stark? Warum ist der Gegensog so gering? Und wie wird die Strömungslehre der Zukunft aussehen? Die Macht der Finanzwelt, zu der das FinTech-Unternehmen Wirecard gehört, zeigt sich unter anderem daran, dass sie mit physikalischen Gesetzen brechen kann. Sie setzt den Hebel, mit dem Menschen in Bewegung gebracht werden, an einer Stelle an, wo doch jeder Gegenhalt, jedes Widerlager fehlt: im Nichtort der Zukunft, auf die alle Fantasien eingenordet werden. Im Vergleich dazu sah der Riese Atlas, der die wirkliche Welt hätte aus den Angeln heben können, echt alt aus, denn er benötigte noch einen festen Standpunkt außerhalb dieser Welt und befand sich nicht im virtuellen Raum. Die Finanzwelt erscheint so attraktiv, weil sie mit einem doppelten Versprechen operiert. Auf der Makroebene verspricht sie Dynamik, Wachstum, Gewinn. Damit dieses Versprechen nicht von vornherein als Exklusivangebot für Privilegierte abschmiert, damit es also auf der Mikroebene funktioniert, muss es in einer Sprache verfasst sein, die jeder versteht und jedem zugänglich ist. Das ist die Sprache des Geldes. Mit Geld kann jeder etwas anfangen – und zwar deshalb, weil es wie eine Allzweckwaffe funktioniert: Es steht selbst für ein Versprechen – dafür, sich in alles Denk- und Wünschbare verwandeln zu können – und ist darauf geeicht, dieses Versprechen zu halten. So wird die Gier massenwirksam. Wer Geld zur Verfügung hat, kommt – wie der Philosoph Georg Simmel im Jahr 1900 gesagt hat – in den Genuss "absoluter Flüssigkeit" und "voll besessener Potenzialität". Dies erklärt das Machtgefühl des COO von Wirecard, der im Chat mit einem Vertrauten darüber fantasiert, eine Karibikinsel oder den Starnberger See kaufen zu wollen. Dies erklärt aber auch, warum so ein Typ nicht für verrückt erklärt wird und jahrelang im Mainstream sozialverträglicher Sehnsüchte mitgeschwommen ist. Gegenkräfte zur Gier sind schwach Warum waren die Gegenkräfte, die den Wirecard-Skandal hätten verhindern können, so schwach? Diese Frage bezieht sich – allgemein gesagt – auf das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik, zwischen individuellem Eigennutz und rechtlich-moralischen Regeln. Diverse Warnsignale, die schon vor Jahren zu blinken begannen, sind übersehen oder abgeschaltet worden. Die politischen Aufsichtsbehörden haben – gelinde gesagt – unbeholfen agiert. Die Wirtschaftsprüfer, die darauf achten sollten, ob im Unternehmen alles mit rechten Dingen zugeht, haben während langer Jahre einen ähnlich miserablen Job gemacht wie damals die Rating- Agenturen im Vorlauf zur Finanzkrise 2008. Zu diesem Versagen gehört ein Gelingen: Die Wirtschaftssubjekte schafften es, sich der Kontrolle zu entziehen und ihr Ding zu machen. Wer diese Dynamik verstehen will, muss in ein Buch schauen, das 1651 erschienen ist: Thomas Hobbes’ Leviathan. Hobbes warf in diesem Buch einen Blick auf eine amoralische Welt, eine Welt im sogenannten Naturzustand, in der jedes Individuum für "gut" hält, was ihm "Lust bringt", und für "böse" hält, "was Unlust bringt oder eine Belästigung darstellt". Hobbes glaubte nicht, dass dieser Egotrip auf Dauer gut gehen könne, aber er bemerkte, dass die Reichen besonders mit ihm liebäugeln. "Mittelmäßiger Reichtum" mache es möglich, "Freundschaften zu erwerben" und sich damit eine gewisse Sicherheit zu verschaffen. (Heute würde man dies Networking und Lobbyarbeit nennen.) Wenn der Reichtum sogar "ungeheuer" groß sei, dann stelle er einen "nahezu sicheren Schutz" in Aussicht. Hobbes schrieb "nahezu", um auch die Reichen dazu zu bewegen, sich an Gesetze zu halten, aber ungewollt entwarf er damals ein Drehbuch für diejenigen, die darauf pfeifen. Hobbes nahm zur Kenntnis, dass es für solche Typen "keine allgemeine Regel für Gut und Böse" gebe, sie legten sich diese Regel einfach so zurecht, wie sie ihnen in den Kram passe – jedenfalls "dort", wie er hinzufügte, "wo es keinen Staat gibt". Damit ist auch das Entscheidende über den Wirecard-Skandal gesagt. Einen Staat oder, allgemein gesagt, eine wirksame rechtliche Ordnung muss es geben, wenn man denjenigen, die das Gute nur zu ihren Gunsten auslegen, in die Quere kommen will. Und umgekehrt: Einen Staat oder eine wirksame rechtliche Ordnung werden diejenigen lästig finden, die auf eigene Faust zurechtzukommen meinen. Auf die von Hobbes porträtierten "Reichen" folgen diverse derartige Figuren. Mitte des 19. Jahrhunderts treten diejenigen auf, die sich in einer "Anarchie plus Schutzpolizist" (Thomas Carlyle) wohlfühlen. Dazu gesellt sich 1922 der von Fernando Pessoa porträtierte "anarchistische Bankier", der als "vollkommener Egoist" alle gesellschaftlichen Regeln für "Fiktionen" hält. Ihm folgen 1930 die von Robert Musil geschilderten "Direktoren der Banken", die überzeugt sind, "dass die Welt viel besser wäre, wenn man sie einfach dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage überließe" – und nicht "wirtschaftsunkundigen Diplomaten". Am Ende dieser Reihe stehen die libertären Trickster unserer Tage. Die Gegenkräfte zur Gier sind heutzutage deshalb so schwach, weil wirtschaftliche Akteure in Bereichen operieren können, in denen es, Hobbes’ Erwartung zum Trotz, tatsächlich "keinen Staat gibt" – oder jedenfalls nur einen schwachen Staat. Die Probleme sind bekannt: Zu ihnen gehören die Asymmetrie zwischen nationalen Rechtssystemen und globaler Wirtschaft sowie die Willfährigkeit der Staaten im Kampf um ökonomische Standortvorteile. Interessant ist in diesem Zusammenhang, auf welchem Wege das Wirecard-Kartenhaus zum Einsturz gebracht worden ist: nämlich nicht durch staatliche Kontrolle, sondern weil eine japanische Firma ihr Investment in Wirecard an die Bedingung einer zusätzlichen Buchprüfung koppelte, die schließlich das Schlamassel ans Licht brachte. Ob man sich auf die Selbstheilungskräfte der globalen Wirtschaft langfristig verlassen kann, ist zu bezweifeln. Derzeit gilt in diesem Bereich immer noch das "Prinzip der Arbeitsteilung", das Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften auf unübertreffliche Weise beschrieben hat. Unser "ganzes Zeitalter", so heißt es dort, "betet den Geist des Geldes an" und "beklagt das zugleich". In dieser gespaltenen Gesellschaft gibt es dann auf der einen Seite diejenigen, die ihre wirtschaftliche Tätigkeit "über Kontinente" ausbreiten und für ein "großes Geschäft" auch die "gerissensten" ihrer Konkurrenten reinlegen. Auf der anderen Seite stehen Politiker, "welche das ihnen wesensfremde, aber wichtige Gebiet der Wirtschaft mit der Vorsicht von Männern behandeln, die einen nicht ganz verlässlichen Elefanten zu pflegen haben". Zu ihnen gesellen sich "Intellektuelle", "Ablasszettelexistenzen" und "Bußprediger", deren "innere Mahnung zur Umkehr" folgenlos bleibt. Wie kann man dieser verhängnisvollen "Arbeitsteilung" ein Ende setzen? Wie lassen sich die Strömungsverhältnisse, in denen der Sog der Gier und der Gegensog des Rechts wirken, beeinflussen? Zwei Strategien bieten sich an. Diejenigen, die nach Musil für die "Mahnung der Umkehr" zuständig sind, müssen aus ihrer Nische oder Schmollecke heraustreten und nach der Macht greifen. Angesichts des Klimawandels ist es Zeit für eine Politik, in der soziale Bewegungen, Staaten und überstaatliche Organisationen nicht auf das Bremsen der wirtschaftlichen Dynamik, sondern auf das Umgestalten einer ganzen Lebensweise zielen. Diejenigen, die – wie Musil dies nannte – vom "Geist des Geldes" besessen und von der "Ichsucht" ergriffen sind, müssen eine Art Entziehungskur machen. Das klingt mühsam und schmerzhaft, ist es aber gar nicht. Denn die Gier nach Geld ist eine selten einfallslose und öde Angelegenheit. "Die Freude am Geldbesitz", so meinte Georg Simmel, "gleicht der Freude am Siege, die bei manchen Naturen so stark ist, dass sie gar nicht danach fragen, was sie denn eigentlich durch den Sieg gewinnen." Die Gier nach Geld basiert also auf einer Verwechslung, bei der man ein Mittel für den Zweck selbst hält und am Ende ziellos durchs Leben irrt. Bei Arthur Schopenhauer heißt es: "Das Geld ist die menschliche Glückseligkeit in abstracto; daher, wer nicht mehr fähig ist, sie in concreto zu genießen, sein ganzes Herz an dieselbe hängt. DIETER THOMÄ lehrt Philosophie an der Universität St. Gallen und veröffentlichte zuletzt bei Ullstein das Buch Warum Demokratien Helden brauchen (2019).
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