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Die ZEIT: Herr Boltanski, in Ihrem neuen Buch beschreiben Sie die
heutige Politik der pausenlosen Veränderung, des unausgesetzten
Umbaus. Für Sie ist diese permanente Revolution von Oben eine
Form der Herrschaft. Erstaunlicherweise nennen Sie in Ihrem Buch
nicht die Person, die diese Herrschaftsform verkörpert, nämlich
Nicolas Sarkozy.
LUC BOLTANSKI: Das muss ich auch nicht. Es ist jedem Leser
klar. Ich schreibe über das Thema »Wofür steht der Name
Sarkozy?«, um einen Buchtitel des Philosophen Alain Badiou zu
zitieren. Allerdings wurde dieses Etwas schon unter Giscard
d'Estaing geboren.
ZEIT: Sie meinen die Idee der Unausweichlichkeit andauernder
Reformen.
BOLTANSKI: Und die Idee, dass Wille und Notwendigkeit in eins
fallen müssen.
ZEIT: Ein historischer Materialismus a la Thatcher.
BOLTANSKI: Oder ein Hegel, der unter die Liberalen gefallen ist
und sagt: »Es gibt keine Alternative.« Und jeder Widerstand
dagegen gilt als zwecklos und reaktionär. Das ging einher, schon
unter Giscard, mit einer zweiten Entwicklung: mit dem Wachstum
der Kompetenz unserer Mächtigen. Sie verfügen über die
Leitwissenschaft des späten 20. und des frühen 21. Jahrhunderts, die
Wissenschaft vom Management. Unsere Linke irrt sehr, wenn sie
vom Rückzug des Staates spricht; lesen Sie nur Le Monde
diplomatique: Da herrscht immer noch die Rollenverteilung
zwischen dem bösen Neoliberalismus und dem guten Staat, der so
schwach geworden sei. Stattdessen haben wir seit 40 Jahren noch
nie so viel Staat wie heutzutage gehabt! Nur ist es eben ein anderer
Staat; er wird geführt wie ein Unternehmen, das unablässig
umgebaut wird.
ZEIT: Damit alles beim Alten bleibt?
BOLTANSKI: Ja, aber was ist das, was bleibt? Ich arbeite gerade an
einer Kritik der Verschwörungstheorien. Denn das muss aufgeklärt
werden: Gibt es überhaupt eine herrschende Klasse, oder gibt es
wenigstens Netze, haben sie Knoten, oder ist das alles nur im Fluss?
Es gibt zurzeit keine wirklich stabilen Begriffe davon, wie
Herrschaft, Kapitalismus und Staat funktionieren. Nur eins ist
gewiss: Alle Beherrschten werden gezwungen, die permanente
Veränderung mitzumachen.
ZEIT: Das tut oft weh.
BOLTANSKI: Eine meiner Studentinnen hat ein Vierteljahr bei
France Telecom gearbeitet und mir gesagt: Wäre ich geblieben, hätte
ich mich umgebracht. Das war, bevor von den Selbstmorden in der
Firma gesprochen wurde.
ZEIT: Karl Marx schrieb, dass die Despotie im Betrieb und
Anarchie im Markt einander bedingen.
BOLTANSKI: Die Frage lautet: Auf wem lasten die Zufälle des
Marktes? Die Antwort von heute: auf den Arbeitern.
ZEIT: Und das ist eine Form von Herrschaft. Sie untersuchen
Formen der Herrschaft, und Sie sagen, dass gesellschaftliche
Herrschaft sich zwar auf Normen stützt, die Herrschenden aber über
sie hinweggehen.
BOLTANSKI: Die Beherrschten und die Herrschenden haben ein
unterschiedliches Verhältnis zu den Regeln. Ein Herrschender weiß,
dass die Regeln konstruiert sind, denn er ist Teil jener Welt, in der
diese gemacht werden. Er kann die Regeln interpretieren, flexibel
mit ihnen umgehen, er kann ihren Geist wahren, indem er sie nicht
buchstabengetreu befolgt und so weiter. Sie kennen das bestimmt
aus Ihren Interviews.
ZEIT: Wie meinen Sie das?
BOLTANSKI: Wenn Sie mit Verantwortlichen sprechen, haben Sie
dann noch nie gehört »Das war am Rande des Erlaubten« oder
»Wenn ich mich wortgetreu an die Regeln gehalten hätte, dann hätte
ich das nie geschafft«?
ZEIT: Ja, da schwingt sogar Stolz mit.
BOLTANSKI: Aber gewiss! Auf den Mut, auf das Unbotmäßige.
Wohingegen die Beherrschten daran erkannt werden, dass sie die
Regeln bis aufs Wort befolgen müssen. In Wahrheit tut freilich
niemand exakt das Vorgeschriebene.
ZEIT: Hätten Sie ein Beispiel?
BOLTANSKI: Viele! Etwa aus der Arbeitssoziologie. In der
modernen Fabrik, die just in time produziert und liefert, darf
beispielsweise niemand irgendwelche Lager haben, um sich ein
wenig Spielraum zu schaffen. Aber wir haben in unseren
Untersuchungen herausgefunden, dass das Management sehr wohl
Ausnahmen zu finden weiß, sich das Leben zu erleichtern. Und die
Arbeiter auch! Nur dass diese das heimlich tun, und wenn ein
Manager vorbeikommt, werden die aufgesparten Teile schnell auf
einem Lastwagen versteckt. So, und die Idee meines neuen Buches
ist eben die, dass über solche Überschreitungen offen gesprochen
werden sollte. Dass Regeln und Institutionen eben Arrangements
und nicht göttlich sind.
ZEIT: Ihr neues Buch heißt »Soziologie und Sozialkritik«. Worin
besteht die gesellschaftliche Rolle der Kritik?
BOLTANSKI: Der Ausgangspunkt des Buches ist, dass die
Gesellschaft Institutionen braucht. Nicht weil sonst jeder gegen
jeden kämpfen würde. Ich bin da nicht so pessimistisch wie die
traditionelle politische Theorie. Aber weil jeder wissen muss, woran
er ist. Wenn Sie zum Beispiel einen Artikel schreiben wollen, aber
Ihre Kinder toben herum, wollen fernsehen, Zimmerfußball spielen
oder Rockmusik hören, dann müssen Sie die Situation, die
Beteiligten und ihre Interessen definieren, ihnen jeweils eine
bestimmte Qualität zumessen. Sie entscheiden darüber, was jetzt
wichtig ist.
ZEIT: In der Gesellschaft ist das genauso?
BOLTANSKI: Das Problem ist, dass in der Gesellschaft kein
menschliches Wesen auf Dauer diese Autorität haben kann. Jeder
Mensch hat einen Körper, steht in Zeit und Raum und auf seinem
Standpunkt. Wie soll er da eine überindividuelle Autorität haben?
Andererseits können wir nicht in einer Welt leben, in der es keine
stabilen Bestimmungen dessen gibt, was als real gilt. Also
brauchen wir ein Wesen ohne Körper, ein im körperlichen Sinn
nicht existentes Wesen.
ZEIT: Die Götter.
BOLTANSKI: Oder den Staat. Institutionen eben. Sie geben an,
was als Realität gelten soll. Sie unterscheiden zwischen Lärm und
Musik, oder zwischen dem, was gut für Europa ist und was nicht.
Das Problem ist nur: Körperlose Wesen können nicht sprechen.
Sie brauchen Sprecher. Die unterscheiden sich schon äußerlich
von anderen Menschen, etwa durch die Uniform, durch Abzeichen
und Anzüge. Freilich kann man immer Zweifel hegen, wer da
gerade spricht: Ist es die Institution? Ist es doch nur das
Individuum?
ZEIT: Ist das die Aufgabe der Kritik?
BOLTANSKI: Eine ihrer Aufgaben. Eine gute Gesellschaft ist
diejenige, in der zwar Institutionen existieren, sodass nicht ohne
Unterlass alles und jedes neu verabredet werden muss, aber in der
diese Institutionen zugleich und pausenlos kritisiert werden
können. Ein Universum, in dem nur die Institutionen das Wort
fuhren, wäre eindimensional.
ZEIT: Und bewegungslos.
BOLTANSKI: Weswegen es das in Reinform auch nicht geben
kann. Ich diskutiere darüber viel mit meinen Kollegen von der
Anthropologie und behaupte: In jeder Gesellschaft gibt es Kritik,
mal mehr, mal weniger, aber eindimensional ist keine.
ZEIT: Wie weit gehen Sie, wenn Sie sagen, Institutionen sind
letztlich sozial konstruierte Fiktionen?
BOLTANSKI: Man spricht ja gern davon, dass alles Mögliche nur
soziale Konstruktion sei. Aber für die Gesellschaft ist es nötig,
dass diese Konstruktionen fixiert werden, man könnte sagen:
essentialisiert, sodass sie also eine Essenz werden, auf die man
sich verlassen kann.
ZEIT: Ein Beispiel?
BOLTANSKI: Wenn jemand sagt: »Das hier ist ja kein echtes
Seminar«, dann gibt es eine Vorstellung davon, was ein echtes
Seminar ist.
ZEIT: Eine Wahrheit.
BOLTANSKI: Aber nicht eine, die vom Himmel gefallen ist. Sie
muss jederzeit kritisiert werden können.
ZEIT: Und ist selbst ein Werkzeug der Kritik.
BOLTANSKI: In dem neuen Buch unterscheide ich mehrere
Formen der Kritik. Die reformistische Kritik zeigt beispielsweise,
dass die Wirklichkeit nicht der Selbstbeschreibung der
Institutionen entspricht. Zum Beispiel: »Man hat die Wahl
gefälscht.« Diese Kritik prangert etwas an, geht aber auch mit
etwas Bestehendem konform, nämlich mit dem Prinzip fairer
Wahlen. Sie bestärkt die bestehende Ordnung.
ZEIT: Und die radikale Kritik?
BOLTANSKI: Ihr Ausgangspunkt ist das existenzielle Erleben.
Sie bringt es zur Sprache, sie bringt es in die Realität. Wobei ich
glaube, dass das vor allem in der Kunst möglich ist.
ZEIT: Sie dichten und schreiben Theaterstücke.
BOLTANSKI: Ich muss dort nicht den Zwängen des
Argumentierens folgen. Das Schöne am Theater ist, dass Sie das
Gegenteil dessen sagen können, was Sie denken. Sie müssen das
Gesagte nicht rechtfertigen.
ZEIT: In der Literatur ist die Kritik also freier als außerhalb?
BOLTANSKI: Ja, sie ist anderswo sehr strengen Regeln
unterworfen. Sie wird normalisiert. Nehmen Sie zum Beispiel
Leserbriefe, in denen sich Menschen über Ungerechtigkeiten
beschweren; ich habe das einmal untersucht. Da wird
unterschieden, welche Beschwerde seriös ist und welche offenbar
von einem Verrückten stammt. Also müssen Sie Ihr Anliegen so
formulieren, dass Sie keiner für verrückt halten könnte. Eine
Grenze der Kritik.
ZEIT: Was wäre das Projekt, das sich gegen Verhältnisse von
Abhängigkeit und Unterdrückung in Stellung bringen ließe?
BOLTANSKI: Projekte entstehen erst in den Revolten.
ZEIT: Nicht vorher?
BOLTANSKI: Nur in wenigen Köpfen. Aber die Geschichte der
Französischen Revolution und später der Arbeiterbewegung zeigt,
dass es der Empörung bedarf, damit neue Ideen entstehen. Sie
finden diesen Gedanken letztlich schon bei Friedrich Schiller und
natürlich bei Karl Marx. Die Entfremdung ist so groß, dass man
noch nicht einmal weiß, was das Gute ist. Nur das Böse ist allzu
sehr bekannt. Nein, man fängt stets erst mit dem an, was man
nicht will. In der Negativität.
ZEIT: Es gibt vieles, was Sie von dem Philosophen Alain Badiou
trennt...
BOLTANSKI: Alles!
ZEIT: ... nur eben das nicht.
BOLTANSKI: Und wissen Sie auch, warum? Weil er von Jean-
Paul Sartre kommt, der uns gelehrt hat, dass das Positive aus der
Negativität entsteht.
DAS GESPRÄCH FÜHRTE GERO VON RANDOW
DIE ZEIT, Juli 2010
Siegfried
Trapp
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