Siegfried Trapp
Willkommen Bienvenido Welcome  
Suche auf den Seiten von strapp.de:
Gescheiterte Eingriffe in die Zeit-Kultur oder: Warum der Pflicht-Ganztag, die Früheinschulung, die Verkürzung der gymnasialen Zeit von G9 auf G8 gescheitert sind  bzw. noch scheitern werden   Rainer Dollase Anfang der 2000er Jahre gab es eine besondere Angst davor, dass wegen des demographischen Knicks der Nachwuchs überall fehlen würde – als Arbeitnehmer, als Rentenzahler, als Gebärende und Zeugende usw. Horror-Rechnungen der Demographen wiesen nach, dass in einigen Jahrzehnten ein Arbeitnehmer zwei Rentner finanzieren müsste. Prognosen sind unvermeidlich, aber in aller Regel scheitern sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit: Das gilt für Wetterprognosen, Wirtschaftsprognosen und Prognosen über die Beschäftigungszahlen, die Arbeits- losigkeit und das Wirtschaftswachstum gleichermaßen. Anfang der 2000er Jahre hat man sich zur Milderung des demographischen Knicks entschlossen, Kinder früher einzuschulen, sie früher in den Arbeitsmarkt zu bringen, für Erwachsene den Pensionierungszeitpunkt weiter hinauszuschieben (Rente mit 67), die Wehrpflicht abzuschaffen – alles Maßnahmen mit dem Ziel die arbeitende Bevölkerung zu vermehren. Die Entscheidung für G8 entsprang z. B. derselben Motivation wie die Früheinschulung („früher rein – früher raus“), zumal man leicht nachweisen konnte, dass in anderen Ländern die jungen Akademiker und Akademikerinnen früher in das Berufsleben integriert werden als bei uns. Warum sollte das in Deutschland nicht möglich sein? Die Antwort ist komplex. Jedes Land hat traditionell eine gewachsene Zeit-Kultur. Morgens wird gearbeitet, abends hat man Freizeit. Oder: es wird ganz früh gear- beitet und es gibt eine lange Mittagspause (eine „Siesta“) und spätabends wird die Arbeit wieder aufgenommen. An diese Zeit-Kultur passt sich eine gesamte Gesellschaft an bzw. ist ein Motor derselben: Schulen,  Geschäfte  und  Ladenöffnungszeiten, Fabriken,  Restaurants,  Verkehrsangebote  etc.  In der Wechselwirkung aller entwickelt sich eine Zeit-Kultur, die ein Kompromiss der idealen Zeitstruktur-vorstellungen aller Akteure ist. In Deutschland gab es eine besonders paradoxe Situation: nach der Wiedervereinigung mussten auch zwei Zeit-Kulturen miteinander synchronisiert werden. In der DDR galt im Schulbereich die G8 Regelung für Gymnasien – in der alten BRD galt G9. Dass man hier ein einheitliches Konzept von Zeit-Kultur entwickeln musste, war ein weiterer Grund – neben der Milderung  des  demographischen  Knicks  –  durch früheres  Verlassen  der  allgemeinbindenden Schulen eine Angleichung zu erreichen. Es ging bei all diesen Fragen nicht um wissenschaftliche  Evidenz,  was  besser  und  was schlechter sei. G8 Abiturienten schaffen es in anderen Ländern ja auch am Studium teilzunehmen,  früher  eingeschulte  Kinder  werden auch erwachsen, besuchen höhere Schulen und studieren – mit derlei Stammtischweisheiten hat man sich über Bedenken der Wissenschaft hin weggesetzt. Was irgendwo und irgendwie möglich ist, muss auch bei uns möglich sein. Weil im Einzelfall so gut wie alles möglich ist heißt das nicht, dass der Durchschnitt auch so reagiert wie der Einzelfall. Damals wie heute ist klar, dass alle diese Maßnahmen die Qualität der Ergebnisse unseres Bildungssystems  nicht  verbessern.  Verbesserungen gelingen weder an Ganztagsschulen, noch an Gesamtschulen, noch durch G8, noch durch die Ein- führung eines zweigeteilten Studiums in Bachelor und Master, noch durch eine frühere Einschulung von Kindern (die übrigens im Kindergarten genauso gut lernen und sich bilden können wie in der Schule). Dieser Befund ist evidenzbasiert, d. h. ernstzunehmende Forschung, die immer auch methodisch besonders kritisch ist, kann dies für den Durchschnitt eindrucksvoll belegen. Wer mit den o. g. Maßnahmen Erfolge vermelden will, muss also tricksen: z. B. das Niveau senken oder die Transparenz der Prüfungsanforderungen so stark fördern (bis hin zur vorherigen Übung der Prüfungsfragen und -antworten), dass es nur noch „Supernoten“ gibt. Das Bildungssystem passt sich so lange an die neuen Strukturen an, dass sich heuchlerische Erfolgsmeldungen konstruieren lassen. So zum Beispiel die „Kompetenzorientierung“ in den bundesdeutschen Lehrplänen, die natürlich theoretisch auch dazu führen könnte, dass man Schüler und Schülerinnen schon mit 15 Jahren auf die Uni schickt – experimentell ist nämlich durch Hans Peter Klein, Professor für Biologiedidaktik in Frankfurt, nachgewiesen worden, dass nahezu alle  Schüler  in  diesem  Alter  eine  Leistungskursklausur der Abiturienten in Biologie bestehen können, da bei der Kompetenzorientierung der Wissenserwerb sekundär ist. Prüfaufgaben enthalten alles Wissen, das man für die Lösung einer  Aufgabe  braucht  –  wer  logisch  denken kann, kann eine solche Klausur schon in jungen Jahren locker bestehen. Deshalb sind lange Schulzeiten auch nicht mehr nötig. Wenn  man  den  Erfolg  von  G8  nur  daran misst, wie viele Schüler und Schülerinnen Abitur  gemacht  haben,  kommt  man  wegen  der Kompetenz- orientierung auf genauso hohe Zahlen wie bei G9. Durch Taschenspielertricks, die man als angebliche Fakten ausgibt, will man die Bevölkerung beruhigen. Das ist – nebenbei bemerkt – Populismus mit Zahlen. Tatsache  ist  folgendes:  Deutschland  (West) hat  im  Unterschied  zu  den  angelsächsischen Ländern, die gerne als Vorbild genommen werden (warum eigentlich?) eine „Vereinskultur“. Schule  endet  mittags  und  um  die  Betreuung, Bildung und Erziehung der Kinder haben sich in langen Jahrzehnten außerschuli- sche Pädagogen und Institutionen, also Vereine, Initiativen, Horte etc. gekümmert. Auch diese haben Kinder gebildet – was die Schulseite immer gerne geleugnet hat, weil sie für sich den Alleinvertretungsanspruch für Bildung reklamiert (was selbst- redend  falsch  ist).  Die  zeitliche  Organisation des Alltags war in der BRD auch schon anders als in der DDR. In letzterer hatten sich ganz andere Institutionen für die Zeitstrukturierung bis zum Zubettgehen entwickelt. Deswegen kann es niemanden wundern, dass G8 eine ziemliche Zumutung für die westdeutsche Bevölkerung war. Mit G8 wurde eine freie pädagogische Nachmittagskultur zerstört. Was geschieht und was ist in den letzten Jahren geschehen? Der Widerstand gegen G8 hat sich an der Basis ziemlich verstärkt – erste Bundesländer (Niedersachsen, Hessen) sind zu G9 zurückgekehrt, neuerdings auch das bevölkerungsreichste Land Deutschlands – Nordrhein-Westfalen – und ein großer Flächenstaat wie Bayern. Der Druck der Elterninitiativen hat letztlich den Ausschlag für die Rückkehr zu G9 gegeben – aktuelle Landtagswahlen sind mit Sicherheit auch durch die G8 und G9 Frage entschieden worden. In NRW hat die Landes- elternschaft der Gymnasien dem Verfasser einen Auftrag für drei Studien erteilt, an denen über 50.000 Befragte teilgenommen haben. Die Ergebnisse dieser methodenkritisch angelegten Studie, in der die Ergebnisse mehrfach abgesichert wurden, ist völlig eindeutig: an die 80 % der Bevölkerung, und nicht nur der Eltern von gymnasialen Kindern, favorisiert eine Rückkehr zu G9. In der oben genannten Untersuchung stellte sich deutlich heraus, dass Eltern, Schüler und andere, die wahrnehmen, dass die G8 Gymnasiasten stärker belastet sind, sich eindeutiger für G9 einsetzen. Und kompromissloser. Sind das nur die schwächeren Schüler? Es gibt deutliche Zweifel daran, da das Problem des Stresses in Gymnasien mehrere Facetten hat. Die Schüler und Schülerinnen möchten ein besonders gutes Abitur haben, damit sie auch Numerus Clausus Fächer studieren können bzw. damit sie attraktive Ausbildungsangebote annehmen können. Mit einem Abiturschnitt von 3,5 kommt man heute weder an der Uni noch in Ausbildungsstellen  (z. B.  Sparkassen)  besonders  gut an. Stress ergibt sich also für ehrgeizige Gym- nasiasten und ihre Eltern dadurch, dass sie besonders gute Noten in der gymna- sialen Zeit anstreben.  Da  man  zum  Beispiel  in  Nordrhein-Westfalen die von der Kultusministerkonferenz geforderten 265 Jahreswochenstunden auf acht Jahre komprimieren musste, ergab sich erstens Stress (weil man Supernoten haben will) und zweitens auch noch ein Zwang zum verpflichtenden Ganztagsgymnasium. Damit wurde die Zeit der individuellen Vorbereitung, der nachmittäglichen Ausge- staltung der Zeitkultur nach der Schule natürlich massiv kürzer – und unerfreulicher. Es stellte sich Stress ein und der Verzicht auf außerschulische Bildung. Wenn man die vorliegenden Ergebnisse richtig deutet, ist also die Rücknahme von G8 und die Wiedereinführung von G9 dem Druck auf Wiederherstellung der alten Zeitkultur geschuldet. Es ist vor allem ein Protest gegen einen verpflichtenden Ganztag. „Verpflichtend“ heißt, für Menschen erklärt, die nicht im pädagogischen System stecken: „Zwangsganztag“ – gelebt wird nur in der Schule. Was stört unsere ZeitgenossInnen mit Gymnasialkindern an dieser Zwangs- verschulung desNachmittags? Den Unterstützer des verpflichtenden Ganztags ist offenbar entgangen, dass auch zur Verbindung von Beruf und Familie ein verpflichtender Ganztag der Kinder nicht mehr zeitgemäß  ist,  da  die Arbeitszeitflexibilisierung  auf Seiten der Eltern nahezu unglaubliche Formen angenommen hat. Fast die Hälfte der bundesdeutschen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen arbeitet nicht mehr in einer „nine to five“ Arbeitszeit, sondern in unterschiedlichen Modellen  bis  zur  völligen  Selbstbe-stimmung  der Arbeitszeit  (Teilzeit,  individuelle  Arbeitszeiten,  flexible  Tages-  und  Wochenzeiten,  Vertrauensarbeitszeiten,  flexible  Jahres-  und  Lebensarbeits-zeiten, Telearbeit). Wer dann Kinder in einem Zwangsganztag hat, kann Freizeit nicht  mehr  mit  seinen  Kindern  verbringen. Die Schule verhindert dann das Familienleben.  Neue Aufgabe für Bildungsideologen: „Wie können wir Familie und Schule vereinbaren?“ statt: „Wie können wir Familie und Beruf verbinden?“ Ein freiwilliger Ganztag ist deshalb nötig, d. h. es muss zwar für Zeiten außerhalb des Schulunterrichts  (der  mittags  enden  sollte)  für  eine angemessene Betreu- ung und Erziehung der Kinder eine Garantie gegeben werden können – aber mit freiwilliger Teilnahme. Nachmittags sollten auch keine Unterrichtsstunden liegen – dafür ist morgens Zeit. Die reinen Lernzeiten über den Tag zu garnieren, als „Rhythmisierung“  oder  „Periodisierung“  euphemistisch bezeichnet, (z. B. morgens ein bisschen Makrame, dann Mathematik, dann Sport, dann Theater AG, dann Mittagessen, dann Latein und Englisch) widerspricht der Zeitkultur einer modernen Industrienation, die das Credo „erst die Arbeit, dann das Spiel“ sozialisatorisch verinnerlicht hat. Periodisierung und Rhythmisierung ist die Zeitkultur von Bummelanten. In eigenen  Untersuchungen  konnte  festgestellt werden,  dass  insbesondere  leistungs- motivierte junge Menschen eine Blockung der Arbeits- und Freizeiten wünschen: also morgens Schule und nachmittags Freizeit bzw. selbstbestimmte Lernzeit und kein unsystematisches Durchmischen von Arbeits- und Freizeiten. Aus  diesen  Gründen  wird  weder  der  verpflichtende Ganztag mit einer Rhythmi- sierung oder Periodisierung eine Chance haben noch die  Verkürzung  der  gymnasialen  Zeit.  In  der Schule – so die Meinung der meisten – kann man nicht ganztags lernen. Wer wirklich vorankommen  will,  braucht  echte  Freizeit,  echte Eigenzeit, Ruhe zum Arbeiten – ohne die Störung durch Kollektive, wie im Ganztag zwangsläufig üblich. Da die Leistungsnormen und  Leistungsziele (besser:  Noten- ziele)  der  Eltern  und  Schüler derartig  gestiegen  sind,  dass  sie  nur  allerbeste Noten haben wollen (das gilt übrigens auch für die langen Studienzeiten, die nur deshalb so lang sind, weil alle eine 1 oder mindestens eine 2 vor dem Komma ihrer Abschlussnote haben wollen). Und um dieses Niveau zu erreichen, braucht man mehr ungestörte private Lernzeit. Entschleunigung also – im Dienste der leichteren Erreichbarkeit von optimalen Abschlussergebnissen. Deshalb werden alle Formen der Beschleunigung von Schulstrukturen scheitern. Prof. Dr. Rainer Dollase  • Dipl. Psych., Jahrgang 1943, Studium er Psychologie in Saarbrücken, Köln und Düsseldorf, empirischer Bildungsforscher an den Hochschulen Aachen, Köln, Hochschullehrer in Essen und Bielefeld bis 2008  • Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Vorschulerziehung – Früheinschulung, Entwicklung und Erziehung, Fremdenfeindlichkeit, Freizeit und musikalische Sozialisation, Evaluationsforschung zu schul- und bildungspolitischen Fragestellungen  • Evaluation und Reform des Qualitätsmanagements, classroom management, Umfrage zur G8/G9- Problematik  • Aktuelle Buchveröffentlichungen: „Classroom Management. Theorie und Praxis des Umgangs mit Heterogenität“ (Band 142 des Schulmanagement – Handbuch, Oldenbourg Verlag, 2012), „Gruppen im Elementarbereich“ (2015, Kohlhammer)
© strapp 2018
Suche auf den Seiten von strapp.de:
Gescheiterte Eingriffe in die Zeit-Kultur oder: Warum der Pflicht- Ganztag, die Früheinschulung, die Verkürzung der gymnasialen Zeit von G9 auf G8 gescheitert sind  bzw. noch scheitern werden   Rainer Dollase Anfang der 2000er Jahre gab es eine besondere Angst davor, dass wegen des demographischen Knicks der Nachwuchs überall fehlen würde – als Arbeitnehmer, als Rentenzahler, als Gebärende und Zeugende usw. Horror- Rechnungen der Demographen wiesen nach, dass in einigen Jahrzehnten ein Arbeitnehmer zwei Rentner finanzieren müsste. Prognosen sind unvermeidlich, aber in aller Regel scheitern sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit: Das gilt für Wetterprognosen, Wirtschaftsprognosen und Prognosen über die Beschäftigungszahlen, die Arbeits-losigkeit und das Wirtschaftswachstum gleichermaßen. Anfang der 2000er Jahre hat man sich zur Milderung des demographischen Knicks entschlossen, Kinder früher einzuschulen, sie früher in den Arbeitsmarkt zu bringen, für Erwachsene den Pensionierungszeitpunkt weiter hinauszuschieben (Rente mit 67), die Wehrpflicht abzuschaffen – alles Maßnahmen mit dem Ziel die arbeitende Bevölkerung zu vermehren. Die Entscheidung für G8 entsprang z. B. derselben Motivation wie die Früheinschulung („früher rein – früher raus“), zumal man leicht nachweisen konnte, dass in anderen Ländern die jungen Akademiker und Akademikerinnen früher in das Berufsleben integriert werden als bei uns. Warum sollte das in Deutschland nicht möglich sein? Die Antwort ist komplex. Jedes Land hat traditionell eine gewachsene Zeit-Kultur. Morgens wird gearbeitet, abends hat man Freizeit. Oder: es wird ganz früh gear-beitet und es gibt eine lange Mittagspause (eine „Siesta“) und spätabends wird die Arbeit wieder aufgenommen. An diese Zeit-Kultur passt sich eine gesamte Gesellschaft an bzw. ist ein Motor derselben: Schulen,  Geschäfte  und  Ladenöffnungszeiten, Fabriken,  Restaurants,  Verkehrsangebote  etc.  In der Wechselwirkung aller entwickelt sich eine Zeit-Kultur, die ein Kompromiss der idealen Zeitstruktur- vorstellungen aller Akteure ist. In Deutschland gab es eine besonders paradoxe Situation: nach der Wiedervereinigung mussten auch zwei Zeit-Kulturen miteinander synchronisiert werden. In der DDR galt im Schulbereich die G8 Regelung für Gymnasien – in der alten BRD galt G9. Dass man hier ein einheitliches Konzept von Zeit-Kultur entwickeln musste, war ein weiterer Grund – neben der Milderung  des  demographischen  Knicks  –  durch früheres  Verlassen  der  allgemeinbindenden Schulen eine Angleichung zu erreichen. Es ging bei all diesen Fragen nicht um wissenschaftliche  Evidenz,  was  besser  und  was schlechter sei. G8 Abiturienten schaffen es in anderen Ländern ja auch am Studium teilzunehmen,  früher  eingeschulte  Kinder  werden auch erwachsen, besuchen höhere Schulen und studieren – mit derlei Stammtischweisheiten hat man sich über Bedenken der Wissenschaft hin weggesetzt. Was irgendwo und irgendwie möglich ist, muss auch bei uns möglich sein. Weil im Einzelfall so gut wie alles möglich ist heißt das nicht, dass der Durchschnitt auch so reagiert wie der Einzelfall. Damals wie heute ist klar, dass alle diese Maßnahmen die Qualität der Ergebnisse unseres Bildungssystems  nicht  verbessern.  Verbesserungen gelingen weder an Ganztagsschulen, noch an Gesamtschulen, noch durch G8, noch durch die Ein-führung eines zweigeteilten Studiums in Bachelor und Master, noch durch eine frühere Einschulung von Kindern (die übrigens im Kindergarten genauso gut lernen und sich bilden können wie in der Schule). Dieser Befund ist evidenzbasiert, d. h. ernstzunehmende Forschung, die immer auch methodisch besonders kritisch ist, kann dies für den Durchschnitt eindrucksvoll belegen. Wer mit den o. g. Maßnahmen Erfolge vermelden will, muss also tricksen: z. B. das Niveau senken oder die Transparenz der Prüfungsanforderungen so stark fördern (bis hin zur vorherigen Übung der Prüfungsfragen und -antworten), dass es nur noch „Supernoten“ gibt. Das Bildungssystem passt sich so lange an die neuen Strukturen an, dass sich heuchlerische Erfolgsmeldungen konstruieren lassen. So zum Beispiel die „Kompetenzorientierung“ in den bundesdeutschen Lehrplänen, die natürlich theoretisch auch dazu führen könnte, dass man Schüler und Schülerinnen schon mit 15 Jahren auf die Uni schickt – experimentell ist nämlich durch Hans Peter Klein, Professor für Biologiedidaktik in Frankfurt, nachgewiesen worden, dass nahezu alle  Schüler  in  diesem  Alter  eine  Leistungskursklausur der Abiturienten in Biologie bestehen können, da bei der Kompetenzorientierung der Wissenserwerb sekundär ist. Prüfaufgaben enthalten alles Wissen, das man für die Lösung einer  Aufgabe  braucht  –  wer  logisch  denken kann, kann eine solche Klausur schon in jungen Jahren locker bestehen. Deshalb sind lange Schulzeiten auch nicht mehr nötig. Wenn  man  den  Erfolg  von  G8  nur  daran misst, wie viele Schüler und Schülerinnen Abitur  gemacht  haben,  kommt  man  wegen  der Kompetenz- orientierung auf genauso hohe Zahlen wie bei G9. Durch Taschenspielertricks, die man als angebliche Fakten ausgibt, will man die Bevölkerung beruhigen. Das ist – nebenbei bemerkt – Populismus mit Zahlen. Tatsache  ist  folgendes:  Deutschland  (West) hat  im  Unterschied  zu  den  angelsächsischen Ländern, die gerne als Vorbild genommen werden (warum eigentlich?) eine „Vereinskultur“. Schule  endet  mittags  und  um  die  Betreuung, Bildung und Erziehung der Kinder haben sich in langen Jahrzehnten außerschuli- sche Pädagogen und Institutionen, also Vereine, Initiativen, Horte etc. gekümmert. Auch diese haben Kinder gebildet – was die Schulseite immer gerne geleugnet hat, weil sie für sich den Alleinvertretungsanspruch für Bildung reklamiert (was selbst-redend  falsch  ist).  Die  zeitliche  Organisation des Alltags war in der BRD auch schon anders als in der DDR. In letzterer hatten sich ganz andere Institutionen für die Zeitstrukturierung bis zum Zubettgehen entwickelt. Deswegen kann es niemanden wundern, dass G8 eine ziemliche Zumutung für die westdeutsche Bevölkerung war. Mit G8 wurde eine freie pädagogische Nachmittagskultur zerstört. Was geschieht und was ist in den letzten Jahren geschehen? Der Widerstand gegen G8 hat sich an der Basis ziemlich verstärkt – erste Bundesländer (Niedersachsen, Hessen) sind zu G9 zurückgekehrt, neuerdings auch das bevölkerungsreichste Land Deutschlands – Nordrhein-Westfalen – und ein großer Flächenstaat wie Bayern. Der Druck der Elterninitiativen hat letztlich den Ausschlag für die Rückkehr zu G9 gegeben – aktuelle Landtagswahlen sind mit Sicherheit auch durch die G8 und G9 Frage entschieden worden. In NRW hat die Landes-elternschaft der Gymnasien dem Verfasser einen Auftrag für drei Studien erteilt, an denen über 50.000 Befragte teilgenommen haben. Die Ergebnisse dieser methodenkritisch angelegten Studie, in der die Ergebnisse mehrfach abgesichert wurden, ist völlig eindeutig: an die 80 % der Bevölkerung, und nicht nur der Eltern von gymnasialen Kindern, favorisiert eine Rückkehr zu G9. In der oben genannten Untersuchung stellte sich deutlich heraus, dass Eltern, Schüler und andere, die wahrnehmen, dass die G8 Gymnasiasten stärker belastet sind, sich eindeutiger für G9 einsetzen. Und kompromissloser. Sind das nur die schwächeren Schüler? Es gibt deutliche Zweifel daran, da das Problem des Stresses in Gymnasien mehrere Facetten hat. Die Schüler und Schülerinnen möchten ein besonders gutes Abitur haben, damit sie auch Numerus Clausus Fächer studieren können bzw. damit sie attraktive Ausbildungsangebote annehmen können. Mit einem Abiturschnitt von 3,5 kommt man heute weder an der Uni noch in Ausbildungsstellen  (z. B.  Sparkassen)  besonders  gut an. Stress ergibt sich also für ehrgeizige Gym- nasiasten und ihre Eltern dadurch, dass sie besonders gute Noten in der gymna- sialen Zeit anstreben.  Da  man  zum  Beispiel  in  Nordrhein-Westfalen die von der Kultusministerkonferenz geforderten 265 Jahreswochenstunden auf acht Jahre komprimieren musste, ergab sich erstens Stress (weil man Supernoten haben will) und zweitens auch noch ein Zwang zum verpflichtenden Ganztagsgymnasium. Damit wurde die Zeit der individuellen Vorbereitung, der nachmittäglichen Ausge-staltung der Zeitkultur nach der Schule natürlich massiv kürzer – und unerfreulicher. Es stellte sich Stress ein und der Verzicht auf außerschulische Bildung. Wenn man die vorliegenden Ergebnisse richtig deutet, ist also die Rücknahme von G8 und die Wiedereinführung von G9 dem Druck auf Wiederherstellung der alten Zeitkultur geschuldet. Es ist vor allem ein Protest gegen einen verpflichtenden Ganztag. „Verpflichtend“ heißt, für Menschen erklärt, die nicht im pädagogischen System stecken: „Zwangsganztag“ – gelebt wird nur in der Schule. Was stört unsere ZeitgenossInnen mit Gymnasialkindern an dieser Zwangs- verschulung desNachmittags? Den Unterstützer des verpflichtenden Ganztags ist offenbar entgangen, dass auch zur Verbindung von Beruf und Familie ein verpflichtender Ganztag der Kinder nicht mehr zeitgemäß  ist,  da  die Arbeitszeitflexibilisierung  auf Seiten der Eltern nahezu unglaubliche Formen angenommen hat. Fast die Hälfte der bundesdeutschen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen arbeitet nicht mehr in einer „nine to five“ Arbeitszeit, sondern in unterschiedlichen Modellen  bis  zur  völligen  Selbstbe-stimmung  der Arbeitszeit  (Teilzeit,  individuelle  Arbeitszeiten,  flexible  Tages-  und  Wochenzeiten,  Vertrauensarbeitszeiten,  flexible  Jahres-  und  Lebensarbeits- zeiten, Telearbeit). Wer dann Kinder in einem Zwangsganztag hat, kann Freizeit nicht  mehr  mit  seinen  Kindern  verbringen. Die Schule verhindert dann das Familienleben.  Neue Aufgabe für Bildungsideologen: „Wie können wir Familie und Schule vereinbaren?“ statt: „Wie können wir Familie und Beruf verbinden?“ Ein freiwilliger Ganztag ist deshalb nötig, d. h. es muss zwar für Zeiten außerhalb des Schulunterrichts  (der  mittags  enden  sollte)  für  eine angemessene Betreu-ung und Erziehung der Kinder eine Garantie gegeben werden können – aber mit freiwilliger Teilnahme. Nachmittags sollten auch keine Unterrichtsstunden liegen – dafür ist morgens Zeit. Die reinen Lernzeiten über den Tag zu garnieren, als „Rhythmisierung“  oder  „Periodisierung“  euphemistisch bezeichnet, (z. B. morgens ein bisschen Makrame, dann Mathematik, dann Sport, dann Theater AG, dann Mittagessen, dann Latein und Englisch) widerspricht der Zeitkultur einer modernen Industrienation, die das Credo „erst die Arbeit, dann das Spiel“ sozialisatorisch verinnerlicht hat. Periodisierung und Rhythmisierung ist die Zeitkultur von Bummelanten. In eigenen  Untersuchungen  konnte  festgestellt werden,  dass  insbesondere  leistungs-motivierte junge Menschen eine Blockung der Arbeits- und Freizeiten wünschen: also morgens Schule und nachmittags Freizeit bzw. selbstbestimmte Lernzeit und kein unsystematisches Durchmischen von Arbeits- und Freizeiten. Aus  diesen  Gründen  wird  weder  der  verpflichtende Ganztag mit einer Rhythmi-sierung oder Periodisierung eine Chance haben noch die  Verkürzung  der  gymnasialen  Zeit.  In  der Schule – so die Meinung der meisten – kann man nicht ganztags lernen. Wer wirklich vorankommen  will,  braucht  echte  Freizeit,  echte Eigenzeit, Ruhe zum Arbeiten – ohne die Störung durch Kollektive, wie im Ganztag zwangsläufig üblich. Da die Leistungsnormen und  Leistungsziele (besser:  Noten-ziele)  der  Eltern  und  Schüler derartig  gestiegen  sind,  dass  sie  nur  allerbeste Noten haben wollen (das gilt übrigens auch für die langen Studienzeiten, die nur deshalb so lang sind, weil alle eine 1 oder mindestens eine 2 vor dem Komma ihrer Abschlussnote haben wollen). Und um dieses Niveau zu erreichen, braucht man mehr ungestörte private Lernzeit. Entschleunigung also – im Dienste der leichteren Erreichbarkeit von optimalen Abschlussergebnissen. Deshalb werden alle Formen der Beschleunigung von Schulstrukturen scheitern. Prof. Dr. Rainer Dollase  • Dipl. Psych., Jahrgang 1943, Studium er Psychologie in Saarbrücken, Köln und Düsseldorf, empirischer Bildungsforscher an den Hochschulen Aachen, Köln, Hochschullehrer in Essen und Bielefeld bis 2008  • Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Vorschulerziehung – Früheinschulung, Entwicklung und Erziehung, Fremdenfeindlichkeit, Freizeit und musikalische Sozialisation, Evaluationsforschung zu schul- und bildungspolitischen Fragestellungen  • Evaluation und Reform des Qualitätsmanagements, classroom management, Umfrage zur G8/G9-Problematik  • Aktuelle Buchveröffentlichungen: „Classroom Management. Theorie und Praxis des Umgangs mit Heterogenität“ (Band 142 des Schulmanagement – Handbuch, Oldenbourg Verlag, 2012), „Gruppen im Elementarbereich“ (2015, Kohlhammer)
© strapp 2018