Siegfried Trapp
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massivem Rückenwind dessen, was Max Weber als „protestantische Ethik" beschrieb. Der Protestant muß kalkulatorisch und sparsam mit Zeit umgehen, denn das ewige Leben, die Zeitlosigkeit, ist über Arbeit und Verzicht zu erlangen, während die Katholiken eine Erlösung durch die Befolgung der Sakramente, einer völlig anderen Art von Arbeit, die nicht auf materiellen Wohlstand zielt, zu erreichen versuchten. Die Ablösung der Lebensgestaltung von den Zeitangaben der Natur und die Ausrichtung an protestantischen Wertvorstellungen führten in der Folgezeit zu den bekannten Effekten der Industrialisierung, mit ihren revolutionären Veränderungen der Produktionsformen, der Verkehrs- und der Kommunikationsmittel. Der heilige Geist wurde zum eiligen Geist, die lebensorientierte Arbeitszeit zur arbeitsorientierten Lebenszeit. Ich habe nirgends eine treffendere Schilderung einer solchen arbeitsorientierten Lebens- und Zeitauffassung gefunden als bei Paul Scheerbart. 1902 publizierte dieser folgende Geschichte: Bei den fleißigen Ameisen herrscht eine sonderbare Sitte: Die Ameise, die in acht Tagen am meisten gearbeitet hat, wird am neunten Tag feierlich gebraten und von den Ameisen ihres Stammes gemeinschaftlich verspeist. Die Ameisen glauben, daß durch dieses Gericht der Arbeitsgeist der fleißigsten auf die essenden übergehe. Und es ist für eine Ameise eine ganz außerordentliche Ehre, feierlich am neunten Tag gebraten und verspeist zu werden. Aber trotzdem ist es einmal vorgekommen, daß eine der fleißigsten Ameisen kurz vorm Gebratenwerden noch folgende kleine Rede hielt: „Meine lieben Brüder und Schwestern! Es ist mir ja ungemein angenehm, daß Ihr mich so ehren wollt! Ich muß Euch aber gestehen, daß es mir noch angenehmer sein würde, wenn ich nicht die Fleißigste gewesen wäre. Man lebt doch nicht bloß, um sich totzuschuften!" „Wozu denn?", schrien die Ameisen ihres Stammes - und sie schmissen die große Rednerin schnell in die Bratpfanne - sonst hätte dieses dumme Tier noch mehr geredet. Die zweite Phase der Entwicklung, die wir die Moderne nennen, ist dort zeitlich lokalisiert, wo menschliche und tierische Arbeitskraft durch Maschinen ergänzt und ersetzt wurden. An die Stelle der rhythmisch gestalteten Produktivität der Natur trat die Produktivität der industriell organisierten Arbeit. Die technisch-industrielle Produktion löste das Zeiterleben von der Natur. Zeit wurde nicht mehr an konkreten Erlebnisinhalten beziehungsweiswe an anschaulichen Erfahrungen festgemacht, sondern weitgehend als von Ereignissen losgelöst verstanden. Auf den Erziehungs-bereich bezogen: Die Schule beginnt jetzt situationsunabhängig um acht Uhr und nicht zum Beispiel wenn es hell wird oder wenn alle Schüler da sind, wie dies noch in ähnlicher Form vom Kirchgang in Südtirol aus dem letzten Jahrhundert berichtet wird, wo das sonntägliche Glockenläuten zum Gottesdienst erst dann einsetzte, wenn der am weitesten entfernt wohnende Bauer auf dem Hügel von der Kirche aus gesehen werden konnte. Technik und Ökonomie setzten den Takt - die Wiederkehr des Gleichen - an die Stelle der rhythmischen Gliederung des Werdens und Ver-gehens. Die Zeit und die Zeiteinteilung wurden an das abstrakte Medium Geld gekoppelt, sie wurden käpitalisiert. Die Verrechenbarkeit von Geld und Zeit (Time is Money) macht die Zeit zur knappen Ware und fördert damit die Beschleunigung der Arbeitsund Lebensverhältnisse. Das Zeitmuster des Taktes wird zum beherrschenden zeitlichen Organisations-prinzip. Chaplin hat für dieses Leben auf die Minute in „Modern Times" die treffenden Bilder gefunden. Die Maschine liefert das Zeitmaß, an diesem gilt es sich primär auszurichten und nicht mehr an den Rhythmen des Lebendigen. Der Fortschritt, als eine auf Zukunft gerichtete Heilserwartung, bestimmt die temporale Lebensform. Die unendliche Ausdehnung in die Zukunft hinein macht Zeit grenzenlos teilbar und zerstückelbar. Die Zeit hat jetzt, im Gegensatz zur Vormoderne, eine völlig veränderte Wertigkeit. Zeit, die nicht in Geld verwandelt werden kann, scheint wertlos. Sie fällt in den Schattenbereich der industrialisierten Welt. Die Uhr wird zur überall sichtbaren Aufforderung, ständig zeitbewußt und zeitsparend zu leben. Die Zeitüberwachung und die Zeitdisziplinierung, die bis in die Mitte des 19. Jahr-hunderts speziell den Meistern und den Unternehmern oblag, wird in der Folgezeit zunehmend entpersönlicht und standardisiert. 1893 wird die Standard-zeit in Deutschland eingeführt. Bereits 20 Jahre vorher beklagt der Sachsen-hauser Bezirksvorstand in Frankfurt das Fehlen öffentlicher Uhren als einen „in jeder Beziehung (!) sehr empfindlichen und nachteiligen Übelstand: Die Kinder z.B., welche zur Schule gehen, werden oft in die Lage kommen, die Anfangszeit der Schule durch Mangel jeglicher öffentlicher Uhr nicht mehr pünktlich einhalten zu können, das richtige Aufgeben der Briefe zur Post, die Eisenbahn-züge, sowie rechtzeitiges Erscheinen bei den Gerichten, Ämtern usw. werden versäumt werden, kurz, es werden die mannigfachsten Unzuträglichkeiten durch den Mangel einer richtig gehenden Uhr entstehen." Pünktlichkeit wird zur geachteten und prämierten Tugend. Um den Erziehungs-prozeß dahingehend zu unterstützen, schließen sich 1872 Frankfurter Geschäfts-leute zusammen, um öffentlich Uhren aufzustellen, die nachts erleuchtet sind. 1922 wird an gleichem Ort vom Magistrat die 24- Stundenzählung (bis dahin zählte man zwei mal 12 Stunden) vorgeschlagen. 1927 wird diese Standardisierung durch Reichserlaß verordnet. Gustav Schmoller beschreibt die damalige Zeitkultur (1873): „Schnell muß alles vorwärts gehen. Die Tugend der Präcision ist vielleicht am allermeisten gestiegen. Die Eisenbahnen wirken, hat man schon gesagt, wie große Nationaluhren. Freilich wer mitkommen will im Leben, muß alle individuellen Wünsche zurücklassen, dem raschen Tempo, den allgemeinen Bedingungen des Dauerlaufs sich fügen." Die Abkoppelung der Zeitorientierung von den kosmischen und den natürlichen Vorgaben führt dann schließlich dazu, daß Regeln (zum Beispiel in Tarifverträgen, in Betriebsordnungen, durch Arbeits- und Verwaltungsgerichte und so weiter) entwickelt werden (müssen), die die Menschen vor den negativen Effekten einer naturfernen Zeitordnung schützen. Kaffeepausen, Urlaub, Freizeit, Fünftage-woche, all dies sind Errungenschaften einer Gesellschaft, die die Zeit und ihre Strukturierung selbst in die Hand genommen hat. Letztlich haben wir unseren Güterwohlstand diesem Perspektivenwechsel zu verdanken - aber auch unseren Zeitnotstand. Die Ablösung der Naturrhythmen durch den menschen-gemachten mechanischen Takt hat uns zu neuen Horizonten der Freiheit geführt - jedoch um den Preis wachsender funktionaler Abhängigkeiten. Wir sind heute weitgehend unabhängig von den Folgen von Naturgewalten, dafür abhängiger vom Ölpreis. Unsere Erlösungshoffnungen richten sich nicht mehr auf die Ewigkeit, sondern auf die rechtzeitige Auszahlung unserer Lebens-versicherung. III. Eines Tages, es ist noch nicht allzu lange her, entdeckte man, daß Flexibilisierung der richtige Name für das sei, woran es uns fehlt. Dies war der Anfang vom Ende taktmäßiger Zeitordnung. Das Zeitalter fremdbestimmter und fremdgesteuerter Pünktlichkeitsmoral geht heute seinem Ende entgegen. Die Zeitorganisation wird zum individuellen Problem und damit zur Aufgabe der Selbstdisziplinierung. Untrügliches Zeichen dafür ist das offensichtliche Verschwinden öffentlicher Uhren. Geht man in Frankfurt vom Hauptbahnhof zu Fuß ins Bankenviertel, durchquert man einen uhrlosen, aber keinen zeitlosen Raum. Weder an den Litfaßsäulen, noch an den U- Bahneingängen und auch nicht mehr an den vielen Geschäftshäusern findet man Orientierung in der Vergänglichkeit des Tages. Man muß selbst eine Uhr besitzen. Dies wird als selbstverständliche Normalität vorausgesetzt. So kommt es zu dem bedauerlichen Sachverhalt, daß wir alle zwar einen Zeitmesser haben, aber dafür keine Zeit mehr.     Wir sind, dies kann man bereits bei dem weitsichtigen Novalis nachlesen, „aus der Zeit der allgemein geltenden Formen heraus". In dieser gegenwärtigen historischen Phase, die man meines Erachtens mit guten Gründen Post-moderne nennen kann, befreien wir uns von der zeitlichen Orientierung am mechanischen Weltbild des Uhrwerks und des regelmäßigen Taktes. Dafür werden Leitbilder des Nicht-Linearen, des Chaos, der Diskontinuität, der Zeitvielfalt für uns sinnbestimmend. Konkret heißt das, daß die Bindung an äußere Zeitgeber generell verringert wird, und zwar zugunsten individueller zeitlicher Orientierungsmaße. Diesem Sachverhalt haben die Wecker, von denen es mehr als Einwohner in unserer Republik gibt, ihren Siegeszug in die Schlafzimmer der Nation zu verdanken. Die Flexibilisierung der Arbeits- und der Lebensverhältnisse hat sie unverzichtbar gemacht. Wir erleben es heute mehr-heitlich als Freiheitsgewinn, jeden Abend neu entscheiden zu können, wann man am nächsten Morgen das Bett verläßt. Dafür zahlen wir einen Preis. Die Entroutinisierung sozialer Zeitorientierung belastet uns mit zusätzlichem Ent- scheidungsstreß. Wer heute guten Gewissens aus dem Bett steigt oder dieses aufsucht, braucht ein Motiv. Das schlichte Naturereignis, daß die Sonne unter- oder aufgeht, reicht nicht mehr aus - nicht einmal mehr, um unsere Kinder von dem Spiel mit dem schnellsten Haustier, der Computermaus, loszureißen. Dies alles wird als Fortschritt gefeiert, zumindest als-solcher akzeptiert. Es ist zweifelsohne auch einer, da wir durch ihn unter anderem von Hunger, Dunkelheit und erzwungener Seßhaftigkeit befreit wurden, und weil er uns viele Möglich-keiten des Handelns eröffnete, die früheren Generationen verschlossen blieben. Aber diese Entwicklung zieht eine Schleppe von allerlei Mißliebigkeiten mit, die wir Nebenfolgen zu benennen gelernt haben. Wir sind Nomaden zwischen unterschiedlichen Zeitanforderungen und verschiedenen Zeitmustern, die es gilt, mit relativ viel Zeitaufwand täglich, ja stündlich, zu koordinieren und zu balancieren. Das Problem, an dem wir alle in dieser verschärften Moderne laborieren, ist der Sachverhalt, daß die erwünschte zeitliche Flexibilität durch eine prinzipielle Vorgabe, also eine Meta-Ordnung, abgesichert werden muß. Das heißt, Flexibilität braucht ein orientierendes Maß, das stabil bleibt, also nicht flexibel ist. Die Natur, die Kirche, soziale und einflußreiche Menschen, haben dies in der Vormoderne und in der Moderne bis in unser Jahrhundert hinein geleistet. Ihre Orientierungsfunktionen finden heute kaum mehr Anerkennung. Jacques Delors hat darauf aufmerksam gemacht, als er behauptete, nicht alle Deutschen glaubten an Gott, aber alle an die Bundesbank. Wir leben in einer beschleunigt bewirtschafteten Zeit, das heißt in einer aufgeregten Zeit. Aber das Geld, mit dem wir unsere Entscheidungen über Zeit gerne koppeln, lädt uns das Problem des Maßes in verstärkter Art und Weise auf. Es kennt kein genug, es ist inhaltsleerer Tauschwert. Nur das, was ich mit dem Geld mache, kaufe, unternehme (das ist der Gebrauchswert) kann Kriterien für das genug abgeben. Wenn man aber die Gleichung Zeit ist Geld aufstellt, dann gilt die Maßlosigkeit neben dem Geld auch für die Zeit. So kommt es, daß, völlig losgelöst von inhaltlichen Bestimmungen, in unserer Gesellschaft mehr Schnelligkeit, höhere Beschleunigung, gesteigerte Zeitgewinne für fast alle Lebensbereiche gefordert werden. Was mit der gewonnenen Zeit schließlich gemacht wird oder gemacht werden soll, steht nicht zur Debatte. So führt der Beschleunigungsdruck zu noch mehr Zeitsparanstrengungen. Denn die gewonnene Zeit wird dazu genutzt, noch mehr Zeit zu gewinnen. Es gibt bei dieser Spirale kein Ende, weil's kein genug gibt. Es sei denn das Ende aller Zeit, der Tod, setzt ihr ein gewaltsames. Dann ist's wirklich genug. Ein Wirtschafts-manager hat im „Spiegel" behauptet: In Zukunft wird es nur noch zwei Arten von Unternehmen geben: Die schnellen und die toten. Er hat dies als Mahnung verstanden, noch schneller zu werden. Vor lauter Schnelligkeit ist er nicht dazu gekommen, Schiller zu lesen. Der nämlich prophezeite: „Das langsamste Volk wird all' die schnellen, flüchtigen, einholen." Schöne Aussichten! Quelle: Capital 12/97
© strapp 2016
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massivem Rückenwind dessen, was Max Weber als „protestantische Ethik" beschrieb. Der Protestant muß kalkulatorisch und sparsam mit Zeit umgehen, denn das ewige Leben, die Zeitlosigkeit, ist über Arbeit und Verzicht zu erlangen, während die Katholiken eine Erlösung durch die Befolgung der Sakramente, einer völlig anderen Art von Arbeit, die nicht auf materiellen Wohlstand zielt, zu erreichen versuchten. Die Ablösung der Lebensgestaltung von den Zeitangaben der Natur und die Ausrichtung an protestantischen Wertvorstellungen führten in der Folgezeit zu den bekannten Effekten der Industrialisierung, mit ihren revolutionären Veränderungen der Produktionsformen, der Verkehrs- und der Kommunikationsmittel. Der heilige Geist wurde zum eiligen Geist, die lebensorientierte Arbeitszeit zur arbeitsorientierten Lebenszeit. Ich habe nirgends eine treffendere Schilderung einer solchen arbeitsorientierten Lebens- und Zeitauffassung gefunden als bei Paul Scheerbart. 1902 publizierte dieser folgende Geschichte: Bei den fleißigen Ameisen herrscht eine sonderbare Sitte: Die Ameise, die in acht Tagen am meisten gearbeitet hat, wird am neunten Tag feierlich gebraten und von den Ameisen ihres Stammes gemeinschaftlich verspeist. Die Ameisen glauben, daß durch dieses Gericht der Arbeitsgeist der fleißigsten auf die essenden übergehe. Und es ist für eine Ameise eine ganz außerordentliche Ehre, feierlich am neunten Tag gebraten und verspeist zu werden. Aber trotzdem ist es einmal vorgekommen, daß eine der fleißigsten Ameisen kurz vorm Gebratenwerden noch folgende kleine Rede hielt: „Meine lieben Brüder und Schwestern! Es ist mir ja ungemein angenehm, daß Ihr mich so ehren wollt! Ich muß Euch aber gestehen, daß es mir noch angenehmer sein würde, wenn ich nicht die Fleißigste gewesen wäre. Man lebt doch nicht bloß, um sich totzuschuften!" „Wozu denn?", schrien die Ameisen ihres Stammes - und sie schmissen die große Rednerin schnell in die Bratpfanne - sonst hätte dieses dumme Tier noch mehr geredet. Die zweite Phase der Entwicklung, die wir die Moderne nennen, ist dort zeitlich lokalisiert, wo menschliche und tierische Arbeitskraft durch Maschinen ergänzt und ersetzt wurden. An die Stelle der rhythmisch gestalteten Produktivität der Natur trat die Produktivität der industriell organisierten Arbeit. Die technisch-industrielle Produktion löste das Zeiterleben von der Natur. Zeit wurde nicht mehr an konkreten Erlebnisinhalten beziehungsweiswe an anschaulichen Erfahrungen festgemacht, sondern weitgehend als von Ereignissen losgelöst verstanden. Auf den Erziehungs-bereich bezogen: Die Schule beginnt jetzt situationsunabhängig um acht Uhr und nicht zum Beispiel wenn es hell wird oder wenn alle Schüler da sind, wie dies noch in ähnlicher Form vom Kirchgang in Südtirol aus dem letzten Jahrhundert berichtet wird, wo das sonntägliche Glockenläuten zum Gottesdienst erst dann einsetzte, wenn der am weitesten entfernt wohnende Bauer auf dem Hügel von der Kirche aus gesehen werden konnte. Technik und Ökonomie setzten den Takt - die Wiederkehr des Gleichen - an die Stelle der rhythmischen Gliederung des Werdens und Ver-gehens. Die Zeit und die Zeiteinteilung wurden an das abstrakte Medium Geld gekoppelt, sie wurden käpitalisiert. Die Verrechenbarkeit von Geld und Zeit (Time is Money) macht die Zeit zur knappen Ware und fördert damit die Beschleunigung der Arbeitsund Lebensverhältnisse. Das Zeitmuster des Taktes wird zum beherrschenden zeitlichen Organisations-prinzip. Chaplin hat für dieses Leben auf die Minute in „Modern Times" die treffenden Bilder gefunden. Die Maschine liefert das Zeitmaß, an diesem gilt es sich primär auszurichten und nicht mehr an den Rhythmen des Lebendigen. Der Fortschritt, als eine auf Zukunft gerichtete Heilserwartung, bestimmt die temporale Lebensform. Die unendliche Ausdehnung in die Zukunft hinein macht Zeit grenzenlos teilbar und zerstückelbar. Die Zeit hat jetzt, im Gegensatz zur Vormoderne, eine völlig veränderte Wertigkeit. Zeit, die nicht in Geld verwandelt werden kann, scheint wertlos. Sie fällt in den Schattenbereich der industrialisierten Welt. Die Uhr wird zur überall sichtbaren Aufforderung, ständig zeitbewußt und zeitsparend zu leben. Die Zeitüberwachung und die Zeitdisziplinierung, die bis in die Mitte des 19. Jahr-hunderts speziell den Meistern und den Unternehmern oblag, wird in der Folgezeit zunehmend entpersönlicht und standardisiert. 1893 wird die Standard-zeit in Deutschland eingeführt. Bereits 20 Jahre vorher beklagt der Sachsen-hauser Bezirksvorstand in Frankfurt das Fehlen öffentlicher Uhren als einen „in jeder Beziehung (!) sehr empfindlichen und nachteiligen Übelstand: Die Kinder z.B., welche zur Schule gehen, werden oft in die Lage kommen, die Anfangszeit der Schule durch Mangel jeglicher öffentlicher Uhr nicht mehr pünktlich einhalten zu können, das richtige Aufgeben der Briefe zur Post, die Eisenbahn-züge, sowie rechtzeitiges Erscheinen bei den Gerichten, Ämtern usw. werden versäumt werden, kurz, es werden die mannigfachsten Unzuträglichkeiten durch den Mangel einer richtig gehenden Uhr entstehen." Pünktlichkeit wird zur geachteten und prämierten Tugend. Um den Erziehungs-prozeß dahingehend zu unterstützen, schließen sich 1872 Frankfurter Geschäfts-leute zusammen, um öffentlich Uhren aufzustellen, die nachts erleuchtet sind. 1922 wird an gleichem Ort vom Magistrat die 24-Stundenzählung (bis dahin zählte man zwei mal 12 Stunden) vorgeschlagen. 1927 wird diese Standardisierung durch Reichserlaß verordnet. Gustav Schmoller beschreibt die damalige Zeitkultur (1873): „Schnell muß alles vorwärts gehen. Die Tugend der Präcision ist vielleicht am allermeisten gestiegen. Die Eisenbahnen wirken, hat man schon gesagt, wie große Nationaluhren. Freilich wer mitkommen will im Leben, muß alle individuellen Wünsche zurücklassen, dem raschen Tempo, den allgemeinen Bedingungen des Dauerlaufs sich fügen." Die Abkoppelung der Zeitorientierung von den kosmischen und den natürlichen Vorgaben führt dann schließlich dazu, daß Regeln (zum Beispiel in Tarifverträgen, in Betriebsordnungen, durch Arbeits- und Verwaltungsgerichte und so weiter) entwickelt werden (müssen), die die Menschen vor den negativen Effekten einer naturfernen Zeitordnung schützen. Kaffeepausen, Urlaub, Freizeit, Fünftage-woche, all dies sind Errungenschaften einer Gesellschaft, die die Zeit und ihre Strukturierung selbst in die Hand genommen hat. Letztlich haben wir unseren Güterwohlstand diesem Perspektivenwechsel zu verdanken - aber auch unseren Zeitnotstand. Die Ablösung der Naturrhythmen durch den menschen-gemachten mechanischen Takt hat uns zu neuen Horizonten der Freiheit geführt - jedoch um den Preis wachsender funktionaler Abhängigkeiten. Wir sind heute weitgehend unabhängig von den Folgen von Naturgewalten, dafür abhängiger vom Ölpreis. Unsere Erlösungshoffnungen richten sich nicht mehr auf die Ewigkeit, sondern auf die rechtzeitige Auszahlung unserer Lebens-versicherung. III. Eines Tages, es ist noch nicht allzu lange her, entdeckte man, daß Flexibilisierung der richtige Name für das sei, woran es uns fehlt. Dies war der Anfang vom Ende taktmäßiger Zeitordnung. Das Zeitalter fremdbestimmter und fremdgesteuerter Pünktlichkeitsmoral geht heute seinem Ende entgegen. Die Zeitorganisation wird zum individuellen Problem und damit zur Aufgabe der Selbstdisziplinierung. Untrügliches Zeichen dafür ist das offensichtliche Verschwinden öffentlicher Uhren. Geht man in Frankfurt vom Hauptbahnhof zu Fuß ins Bankenviertel, durchquert man einen uhrlosen, aber keinen zeitlosen Raum. Weder an den Litfaßsäulen, noch an den U-Bahneingängen und auch nicht mehr an den vielen Geschäftshäusern findet man Orientierung in der Vergänglichkeit des Tages. Man muß selbst eine Uhr besitzen. Dies wird als selbstverständliche Normalität vorausgesetzt. So kommt es zu dem bedauerlichen Sachverhalt, daß wir alle zwar einen Zeitmesser haben, aber dafür keine Zeit mehr.     Wir sind, dies kann man bereits bei dem weitsichtigen Novalis nachlesen, „aus der Zeit der allgemein geltenden Formen heraus". In dieser gegenwärtigen historischen Phase, die man meines Erachtens mit guten Gründen Post-moderne nennen kann, befreien wir uns von der zeitlichen Orientierung am mechanischen Weltbild des Uhrwerks und des regelmäßigen Taktes. Dafür werden Leitbilder des Nicht-Linearen, des Chaos, der Diskontinuität, der Zeitvielfalt für uns sinnbestimmend. Konkret heißt das, daß die Bindung an äußere Zeitgeber generell verringert wird, und zwar zugunsten individueller zeitlicher Orientierungsmaße. Diesem Sachverhalt haben die Wecker, von denen es mehr als Einwohner in unserer Republik gibt, ihren Siegeszug in die Schlafzimmer der Nation zu verdanken. Die Flexibilisierung der Arbeits- und der Lebensverhältnisse hat sie unverzichtbar gemacht. Wir erleben es heute mehr-heitlich als Freiheitsgewinn, jeden Abend neu entscheiden zu können, wann man am nächsten Morgen das Bett verläßt. Dafür zahlen wir einen Preis. Die Entroutinisierung sozialer Zeitorientierung belastet uns mit zusätzlichem Ent-scheidungsstreß. Wer heute guten Gewissens aus dem Bett steigt oder dieses aufsucht, braucht ein Motiv. Das schlichte Naturereignis, daß die Sonne unter- oder aufgeht, reicht nicht mehr aus - nicht einmal mehr, um unsere Kinder von dem Spiel mit dem schnellsten Haustier, der Computermaus, loszureißen. Dies alles wird als Fortschritt gefeiert, zumindest als-solcher akzeptiert. Es ist zweifelsohne auch einer, da wir durch ihn unter anderem von Hunger, Dunkelheit und erzwungener Seßhaftigkeit befreit wurden, und weil er uns viele Möglich- keiten des Handelns eröffnete, die früheren Generationen verschlossen blieben. Aber diese Entwicklung zieht eine Schleppe von allerlei Mißliebigkeiten mit, die wir Nebenfolgen zu benennen gelernt haben. Wir sind Nomaden zwischen unterschiedlichen Zeitanforderungen und verschiedenen Zeitmustern, die es gilt, mit relativ viel Zeitaufwand täglich, ja stündlich, zu koordinieren und zu balancieren. Das Problem, an dem wir alle in dieser verschärften Moderne laborieren, ist der Sachverhalt, daß die erwünschte zeitliche Flexibilität durch eine prinzipielle Vorgabe, also eine Meta- Ordnung, abgesichert werden muß. Das heißt, Flexibilität braucht ein orientierendes Maß, das stabil bleibt, also nicht flexibel ist. Die Natur, die Kirche, soziale und einflußreiche Menschen, haben dies in der Vormoderne und in der Moderne bis in unser Jahrhundert hinein geleistet. Ihre Orientierungsfunktionen finden heute kaum mehr Anerkennung. Jacques Delors hat darauf aufmerksam gemacht, als er behauptete, nicht alle Deutschen glaubten an Gott, aber alle an die Bundesbank. Wir leben in einer beschleunigt bewirtschafteten Zeit, das heißt in einer aufgeregten Zeit. Aber das Geld, mit dem wir unsere Entscheidungen über Zeit gerne koppeln, lädt uns das Problem des Maßes in verstärkter Art und Weise auf. Es kennt kein genug, es ist inhaltsleerer Tauschwert. Nur das, was ich mit dem Geld mache, kaufe, unternehme (das ist der Gebrauchswert) kann Kriterien für das genug abgeben. Wenn man aber die Gleichung Zeit ist Geld aufstellt, dann gilt die Maßlosigkeit neben dem Geld auch für die Zeit. So kommt es, daß, völlig losgelöst von inhaltlichen Bestimmungen, in unserer Gesellschaft mehr Schnelligkeit, höhere Beschleunigung, gesteigerte Zeitgewinne für fast alle Lebensbereiche gefordert werden. Was mit der gewonnenen Zeit schließlich gemacht wird oder gemacht werden soll, steht nicht zur Debatte. So führt der Beschleunigungsdruck zu noch mehr Zeitsparanstrengungen. Denn die gewonnene Zeit wird dazu genutzt, noch mehr Zeit zu gewinnen. Es gibt bei dieser Spirale kein Ende, weil's kein genug gibt. Es sei denn das Ende aller Zeit, der Tod, setzt ihr ein gewaltsames. Dann ist's wirklich genug. Ein Wirtschafts-manager hat im „Spiegel" behauptet: In Zukunft wird es nur noch zwei Arten von Unternehmen geben: Die schnellen und die toten. Er hat dies als Mahnung verstanden, noch schneller zu werden. Vor lauter Schnelligkeit ist er nicht dazu gekommen, Schiller zu lesen. Der nämlich prophezeite: „Das langsamste Volk wird all' die schnellen, flüchtigen, einholen." Schöne Aussichten! Quelle: Capital 12/97
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