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Stups zum Glück Warum Regierungen sich nicht anmaßen sollten, bis ins Letzte zu bestimmen, was gut für ihre Bürger ist. Ein Kommentar von Tina Hildebrandt DIE ZEIT Nº 01/2015 1. Januar 2015  18:25 Uhr Das Gute scheint unaufhaltsam auf dem Vormarsch: Erst versprachen SPD und Gewerkschaften "gute Arbeit", nun hat sich das Kanzleramt das "gute Leben" der Deutschen als Ziel vorgenommen. Der moderne Staatsbürger ist zumeist gutwillig, er geht wählen und zahlt leicht grummelnd seine Steuern – aber dumm und naiv ist er nicht. Wenn also die Politik so ganz nett daherkommt und den Bürger fragt, was ihn denn glücklich machen könnte, dann wird er als Erstes denken: jedenfalls nicht die Politik. Oder geht das neueste Kalkül der Kanzlerin doch auf? Im Kanzleramt wird derzeit erforscht, was die Deutschen glücklich macht und wie man ihnen zu ihrem Glück verhelfen kann. Wirksames Regieren lautet der Name der zugehörigen Kommission, nudging ("anstupsen") heißt die Methode. "Liberaler Paternalismus" wird das Konzept auch genannt. Ein Widerspruch in sich, der allerdings sehr gut zu einer Kanzlerin passt, die im Ausland als Freiheitsheldin gefeiert wird, während der politische Aktivitätspegel ihrer Bürger in Richtung hundertjähriger Schlaf tendiert. Nicht harte Verbote, so die Idee der sanften Pater- und Maternalisten, sollen den Bürger lenken, sondern kleine Entscheidungshilfen, die ihn in die richtige Richtung stupsen, möglichst unbemerkt. Anstatt einen Veggie-Day zu verordnen, wird zum Beispiel in der Mensa vorne die Salatbar aufgebaut, dann kommen die Beilagen und erst als dritte Station die Fleischportion. Der Kunde nimmt wahrscheinlich mehr vom Salat, er ernährt sich gesünder. Das klingt gut – und legitim, schließlich lenkt der Staat unser Leben auf mannigfaltige Weise. Wer aber definiert, was gut ist oder falsch oder gar Glück? Das Bruttoinlands- produkt mag unzureichend wirken, aber es hat den Vorteil, objektiv messbar zu sein. Das Glück objektiv zu beschreiben ist hingegen beinah unmöglich. In einer Gesellschaft, die sich rasant diversifiziert und in Teilöffentlichkeiten aufspaltet, tendiert "das Gute" daher zur Nullaussage – oder zur Bevormundung. Lange galt das Königreich Bhutan als Mekka der Glücksforscher. Dort soll die Zufriedenheit der Bewohner nicht nur am schnöden Geld festgemacht werden, stattdessen wird es am "Bruttonationalglück" gemessen. Das Recht auf ein Stück davon findet sich auch in der Verfassung. Mit dem "pursuit of happiness", dem Recht auf ein Streben nach Glück in der amerikanischen Verfassung, hat das allerdings nicht viel zu tun. Denn hier definiert das Individuum sein Glück, verstanden als Selbstverwirklichung, dort der Staat. Nicht ganz zufällig ist Bhutan keine Demokratie, und es unterdrückt diejenigen, die partout nicht einsehen wollen, dass sie glücklich sind. In Schöne Neue Welt, der berühmten Dystopie von Aldous Huxley, verteidigt der Protagonist John im Gespräch mit Mustapha Mond, dem Vertreter eines komplett gelenkten Staates, sein Recht auf Unglück mit den Worten: "Ich will keine Bequemlichkeit, ich will Poesie, ich will echte Gefahr, ich will Freiheit." Glück ist hier untrennbar mit Individualität verbunden, es beinhaltet die Möglichkeit, sich zu entscheiden, im Zweifel auch für das weniger Gute. Was hat das alles mit Merkel und dem neuen Jahr zu tun? Natürlich ist Deutschland von einer Diktatur des Guten weit entfernt. Allerdings kommt das unmerkliche Glücksregiment dem Merkelschen Ideal des Regierens gefährlich nah: Muttikratie. Wo Ideologien als überwunden gelten, wo das alte Ordnungs- raster links/rechts nicht mehr funktioniert, droht das "Gute" zum Kampfbegriff zu werden, zur Ausrede, im schlechtesten Fall zur neuen Ideologie. Gut ist dann nicht mehr das bessere Argument. Gut ist dann immer, was ich meine, und unanständig sind immer die anderen. Was gut ist, muss sich in der Wirklichkeit bewähren, in einer Demokratie sollte man darüber streiten und für das werben, was man für richtig hält, konkret und so erkennbar wie möglich. Supermärkte "stupsen" ihre Kunden an, damit sie an der Kasse noch schnell ein paar Waren draufpacken. Eine Regierung sollte nicht stupsen, sie sollte versuchen zu überzeugen. Und deutlich sagen, wohin sie das Land lenken will. Sie sollte gut regieren und das Glück ihren Bürgern überlassen. Jedem der 80,62 Millionen sein eigenes.
Siegfried Trapp
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Stups zum Glück Warum Regierungen sich nicht anmaßen sollten, bis ins Letzte zu bestimmen, was gut für ihre Bürger ist. Ein Kommentar von Tina Hildebrandt DIE ZEIT Nº 01/2015 1. Januar 2015  18:25 Uhr Das Gute scheint unaufhaltsam auf dem Vormarsch: Erst versprachen SPD und Gewerkschaften "gute Arbeit", nun hat sich das Kanzleramt das "gute Leben" der Deutschen als Ziel vorgenommen. Der moderne Staatsbürger ist zumeist gutwillig, er geht wählen und zahlt leicht grummelnd seine Steuern – aber dumm und naiv ist er nicht. Wenn also die Politik so ganz nett daherkommt und den Bürger fragt, was ihn denn glücklich machen könnte, dann wird er als Erstes denken: jedenfalls nicht die Politik. Oder geht das neueste Kalkül der Kanzlerin doch auf? Im Kanzleramt wird derzeit erforscht, was die Deutschen glücklich macht und wie man ihnen zu ihrem Glück verhelfen kann. Wirksames Regieren lautet der Name der zugehörigen Kommission, nudging ("anstupsen") heißt die Methode. "Liberaler Paternalismus" wird das Konzept auch genannt. Ein Widerspruch in sich, der allerdings sehr gut zu einer Kanzlerin passt, die im Ausland als Freiheitsheldin gefeiert wird, während der politische Aktivitätspegel ihrer Bürger in Richtung hundertjähriger Schlaf tendiert. Nicht harte Verbote, so die Idee der sanften Pater- und Maternalisten, sollen den Bürger lenken, sondern kleine Entscheidungshilfen, die ihn in die richtige Richtung stupsen, möglichst unbemerkt. Anstatt einen Veggie-Day zu verordnen, wird zum Beispiel in der Mensa vorne die Salatbar aufgebaut, dann kommen die Beilagen und erst als dritte Station die Fleischportion. Der Kunde nimmt wahrscheinlich mehr vom Salat, er ernährt sich gesünder. Das klingt gut – und legitim, schließlich lenkt der Staat unser Leben auf mannigfaltige Weise. Wer aber definiert, was gut ist oder falsch oder gar Glück? Das Bruttoinlands-produkt mag unzureichend wirken, aber es hat den Vorteil, objektiv messbar zu sein. Das Glück objektiv zu beschreiben ist hingegen beinah unmöglich. In einer Gesellschaft, die sich rasant diversifiziert und in Teilöffentlichkeiten aufspaltet, tendiert "das Gute" daher zur Nullaussage – oder zur Bevormundung. Lange galt das Königreich Bhutan als Mekka der Glücksforscher. Dort soll die Zufriedenheit der Bewohner nicht nur am schnöden Geld festgemacht werden, stattdessen wird es am "Bruttonationalglück" gemessen. Das Recht auf ein Stück davon findet sich auch in der Verfassung. Mit dem "pursuit of happiness", dem Recht auf ein Streben nach Glück in der amerikanischen Verfassung, hat das allerdings nicht viel zu tun. Denn hier definiert das Individuum sein Glück, verstanden als Selbstverwirklichung, dort der Staat. Nicht ganz zufällig ist Bhutan keine Demokratie, und es unterdrückt diejenigen, die partout nicht einsehen wollen, dass sie glücklich sind. In Schöne Neue Welt, der berühmten Dystopie von Aldous Huxley, verteidigt der Protagonist John im Gespräch mit Mustapha Mond, dem Vertreter eines komplett gelenkten Staates, sein Recht auf Unglück mit den Worten: "Ich will keine Bequemlichkeit, ich will Poesie, ich will echte Gefahr, ich will Freiheit." Glück ist hier untrennbar mit Individualität verbunden, es beinhaltet die Möglichkeit, sich zu entscheiden, im Zweifel auch für das weniger Gute. Was hat das alles mit Merkel und dem neuen Jahr zu tun? Natürlich ist Deutschland von einer Diktatur des Guten weit entfernt. Allerdings kommt das unmerkliche Glücksregiment dem Merkelschen Ideal des Regierens gefährlich nah: Muttikratie. Wo Ideologien als überwunden gelten, wo das alte Ordnungs-raster links/rechts nicht mehr funktioniert, droht das "Gute" zum Kampfbegriff zu werden, zur Ausrede, im schlechtesten Fall zur neuen Ideologie. Gut ist dann nicht mehr das bessere Argument. Gut ist dann immer, was ich meine, und unanständig sind immer die anderen. Was gut ist, muss sich in der Wirklichkeit bewähren, in einer Demokratie sollte man darüber streiten und für das werben, was man für richtig hält, konkret und so erkennbar wie möglich. Supermärkte "stupsen" ihre Kunden an, damit sie an der Kasse noch schnell ein paar Waren draufpacken. Eine Regierung sollte nicht stupsen, sie sollte versuchen zu überzeugen. Und deutlich sagen, wohin sie das Land lenken will. Sie sollte gut regieren und das Glück ihren Bürgern überlassen. Jedem der 80,62 Millionen sein eigenes.
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