Die vom Reiseführer als Sehenswürdigkeiten angepriesene erwiesen sich nicht als solche,
insbesondere der Pais des Rois
enttäuschte mich. Ich versuchte
wenigstens zwei Fahrradreifen zu
kaufen, mitnichten. Nachdem ich zwei
Geschäfte aufgesucht hatte, darunter
ein sehr großes, kristallisiert sich
heraus, dass in Frankreich meine
Größe gar nicht vertrieben wird. Das ist bitter. Die Reifen sind ziemlich
abgefahren und haben tiefe Schnitte. Ob ich in Spanien welche bekomme, ist sehr
zweifelhaft.
Allmählich fror es mich in meiner kurzen Hose, und ich fuhr heim. Eigentlich bräuchte ich es
nicht zu erwähnen, dass, nachdem auf der Hinfahrt fast Windstille war, jetzt ziemlicher
Gegenwind blies: Vielleicht fahre ich die meiste Zeit meines Lebens in die falsche Richtung.
Wie befürchtet, war der Schlafsack noch nicht trocken, er war sogar noch klatschnass. Wie
also die Nacht verbringen? Ich hatte mittags die Blitzschutzdecke als Sonnenschutz über
das Zelt gespannt, und so sah ich sie. Sie war als Kälteschutz so geeignet, dass ich sogar
die Hose ausziehen konnte. Die Nacht war relativ mild.
Heute morgen bläut sich zwar wieder das Firmament, aber es herrscht, zumindest an der
Küste, Wind in Sturmstärke aus Südsüdost. Eine Weiterfahrt verbietet sich so, Schlafsack
nass oder nicht, von selbst.
Derselbe Ort, Sonntag, 01.05.1983, 09:00
Am Nachmittag war ich auf kurze Einkaufsfahrt in Canet-Plage und auch im Hafen. Dort
konnte ich einem Anschlag entnehmen, dass der SSO-Wind 20 -25 m/s
Windgeschwindigkeit aufweist, also 70 - 90 km/Std. Zu viel für das Rad.
Die Französischkenntnisse erweitern sich nur scheibchenweise, in der Grammatikübung bin
ich jetzt in der Lektion 10: Le passé composé. So oder so, sechs Wochen Frankreich sind
jetzt genug, es gibt mir nichts mehr. Also auf nach España, zu neuen Ufern.
Der Wind hat gedreht!
Colera/España, Montag, 02.05.1983, 14:00
Gestern war bisheriger Abenteuertag Nr.1.
Ich kam recht spät weg, etwa halb eins, da ich erst viele Ausrüstungsgegenstände vom
Staub, dem Charakteristikum dieses CP, befreien musste. Der Wind kam zwar mehr von der
Seite als von hinten, war aber dem Vorankommen sehr förderlich. Nach acht Kilometern
Fahrt war ein pechschwarzes Wolkenband, das die Nordflanke der Pyrenäen beschattete,
auch bei bestem Willen nicht mehr zu übersehen. Ich hielt kurz vor dem CP in St. Cyprien-
Plage, beschloss aber ziemlich schnell noch die 10 km bis Argelés-Plage zu fahren. Klar
dass es mittendrin anfing zu regnen. In Argelés hagelte ich mit dem ganzen Rad hin, weil
ich, statt das rechte Bein über die Lenkstange zu schwingen, normal über den Sattel
aufsteigen wollte: In den zwei Tagen, in denen ich in Canet ohne Gepäck gefahren war, hatte
ich es mir schon wieder so angewöhnt und blieb jetzt entsprechend am hohen
Gepäckaufbau hängen.
Den CP in Argelés sah ich mir an: Kein schlechter Platz; einige Deutsche, darunter ein
kleines Zelt und ein VW Golf mit Waiblinger Nummer daneben. Da es noch immer tropfte,
waren die Besitzer innen. Ich wollte schon was reinrufen, vermutete junge Leute, dem war
aber nicht so: Eine ca. 55-jährige mit ihrer ca. 30-jährigen Tochter, beide recht wohlbeleibt
und von jovialem lärmenden Wesen: Unschwer zu erkennen, dass sie im Sozialbereich tätig
sind, wie nachher auch herauskam (Arzthelferin die Mutter, Altenpflegerin die Tochter): Ich
hätte fast gewettet, dass sie in der Anstalt Stetten beschäftigt sind.
Ein älterer Herr gesellte sich zu uns, ob Franzose oder Deutscher war für mich nicht
erkennbar, er schien beide Sprachen perfekt zu beherrschen. Er versprach, dass in einer
Stunde wieder die Sonne lachen würde. Aufgrund dessen (und ermuntert durch einige
Schluck Rotwein) trat ich noch die Fahrt nach Port-Vendres an, obwohls inzwischen schon
halb fünf war. Die Strecke war wunderschön, die Buchten entlang, wenn auch ziemlich
bergig. Nach einer Stunde begann es wieder heftig zu regnen, womit bewiesen ist, dass auf
die alten weisen Männer heute auch kein Verlass mehr ist.
Auf einer meiner Karten ist eine Schifffahrtslinie von Port-Vendres nach Barcelona
eingezeichnet. An der Rezeption des CP in Canet-Plage wurde mir aber gesagt, dass keine
Schiffe von Port-Vendres abfahren, im ganzen Hafen war auch kein entsprechendes Büro zu
entdecken . Zwar lag ein großer Pott vor Anker, und ich hätte auch gefragt, aber es war
Sonntagnachmittag und kein Mensch der Schiffsbesatzung weit und breit zu sehen.
So fuhr ich zum Bahnhof und machte in radebrechendem Französisch klar, wes mein
Begehren sei. Es war noch am Abend möglich, nach Barcelona zu gelangen, und ich hatte
schon mein Rad in die Halle geschoben, als ein weiterer hinzukommender Bahnhofsmensch
andeutete, dass es zwei bis drei Tage dauern würde, bis aufgrund der Grenzverzögerungen
mein Gepäck nachkäme. Da zog ich es vor das Rad wieder rauszuschieben.
Es war 19:00 Uhr, und es waren noch 25
Kilometer bis zur Grenze und 35 km bis zum
nächsten CP. Erst jetzt wurde es richtig steil, eine
Serpentine folgte auf die andere. Dazwischen
ging es bergab wo ich so schnell fahren konnte,
dass mich Autos nicht zu überholen vermochten.
Die Grenze passierte ich um 20:30. Nach der
Abfahrt nach Port-Bou begann die schwerste Steigung, etwa 300
Höhenmeter in gefühlt 25 Serpentinen. Während der ganzen Fahrt waren die Pyrenäen mit
Regenwolken verhangen; nun kam die senkrecht im Tal stehende Regenwand über mich.
Begleitet war der Regen, insbesondere auf der Passhöhe, von sturmartigen Böen. Die Nacht
brach herein. Wegen des starken Regens musste ich teilweise die Brille abnehmen, was
sich bei der Talabfahrt auf das Sehvermögen sehr ungünstig auswirkte. Trotz oder gerade
wegen all diesen Umständen verursachte dies bei mir eine schöne wilde Freude.
In Colera war der erste CP, es war inzwischen ungefähr 21:15, dunkel und menschenleer,
obwohl laut Führer offen. Das war der Moment, wo die Stimmung umschlug; ich hatte seit
neun Stunden fast nichts gegessen, war an mehreren Stellen durchnässt, fror bisweilen. Es
war stockdunkel, die Straße verließ den Ort wieder und begann anzusteigen.
Ich war keineswegs sicher, auf dem richtigen Weg zu sein, als die Lichter des nächsten CP
auftauchten.
Das Einschlagen der Heringe in den steinigen Boden entlockte mir noch einige Flüche; dann
spachelte ich ausgiebig und haute mich lang hin. Aus dem Nachbarzelt waren noch einige
beischlafähnliche Geräusche zu hören.
Viva España.
Heute ist der erste wirklich heiße Tag, im Sonnenlicht kaum zu ertragen nach der noch nicht
erfolgten Anpassung.
Ich bin am Überlegen, wohin die bevorstehende Bahnfahrt gehen soll: Valencia? Cartagena?
Almeria? Ich möchte nämlich weiter runterfahren: Viel mehr Wärme, hoffentlich mehr Leben,
und vor allem mehr Mädchen. Ich bin so scharf, dass ich die erstbeste, die mir über den
Weg läuft, flachlegen könnte.
Oder vielleicht sogar bis Malagá? Dann wäre noch die Fahrt durch die Algarve drin.
Derselbe Ort, derselbe Tag, 18:30
Wenn der Anruf bei Manfred heute Abend nichts Nachteiliges erbringt, werde ich morgen
zum Grenzbahnhof Portbou zurückfahren (und dort auf Sprachkenntnisse hoffen) und
wahrscheinlich Granada einfach buchen.
Bahnhof de la Francia/Barcelona, Mittwoch, 04.05.1983, 19:30
Das Ergebnis des Anrufs war zwar nicht erquickend (Antrag "demnächst" und "formlos"),
stand aber der Weiterreise nicht grundsätzlich entgegen.
Der CP in Colera war schön gelegen, aber völlig leblos. Noch beim Packen
war ich unsicher, was ich nun weiter unternehmen sollte. Vollends
schwankend wurde ich dann durch Folgendes: Ein alter Mann sprach mit
mir.
Auf dem CP war noch ein kleines Zelt und ein Fahrrad, aber ich entdeckte niemanden, der
dazu zu passen schien. Kein Wunder, es war ein etwa 65 Jahre alter Engländer. Er hatte per
Fahrrad die iberische Halbinsel umrundet, auch in Andalusien herumgekraxelt mit dem Rad
("terrible") und war bereits wieder auf dem Weg nach Norden.
An der Weggabelung lenkte ich dann mein Rad nicht nach Port-Bou zurück, sondern
vorwärts nach Figueras: Ich fahre nie gern zurück, obwohl man manchmal im Leben durch
ein Stück zurückgehen weiter vorwärts kommt.
Zeitweise herrschte eine Gluthitze, vor allem in den Tälern zwischen den Bergen. Letzeres
Wort deutet an, dass die Strecke nicht eben eben war. Trotzdem waren die 30 km bis
Figueras kein Problem.
Etwa gegen ein Uhr mittags kam ich an. In der Innenstadt setze
plötzlich ein Getöse ein: Lautsprecher dröhnten mit unterschiedlicher
Musik aus verschiedenen Richtungen, Konfetti und Papierschlangen
regneten pfundweise herab, Umzugskutschen defilierten vorbei, ein
Raritätenmarkt, quirlende Menschenmassen. Nach der
vorangegangenen Einsamkeit genoss ich das Bad in der Menge mit
warmem Behagen; eine Menge hübscher Spanierinnen erhöhten
den Genuß.
Anscheinend irgendein Feiertag. Somit hatten alle Banken
geschlossen, es bestand die Gefahr, dass eine Bahnfahrt an diesem Tag nicht möglich war.
Ich hatte mich nämlich inzwischen entschieden, mich nach Süden zu verlagern: Mir bleiben
höchstens noch dreieinhalb Wochen.
In einem Reisebüro brachte ich dann doch noch einen Reisescheck an, und ich begab mich
zum Bahnhof.
An dieser unseligen Stätte begann der erste Akt des folgenden Dramas.
Siegfried
Trapp
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